Kultur und Weindas beschauliche MagazinNils Arztmann (Kostja), Paula Nocker (Nina) © Moritz Schell DIE MÖWE Tiefgreifende Dialoge im Wodkarausch Die Gesellschaft, die Anton Tschechow in „Die Möwe“ irgendwo in den Weiten Russlands ihren Sommer verbringen lässt, hat ein Problem: Ihr ist fad. Der angehende Schriftsteller Konstantin (Kostja) versucht mit einem kleinen Theaterstück der Langeweile gegenzusteuern. Seine Mutter Irina Arkadina, eine arrivierte Schauspielerin, wirft sich zur Kritikerin auf und zerreißt das Werk vor Augen und Ohren aller Anwesenden. Als Rest an Kurzweil verbleiben komplizierte Beziehungen, die wortreich immer verwickelter werden, bis es zur erlösenden Abreise in die Stadt kommt. Im zweiten Teil des Dramas, Jahre später, geht es nicht viel anders zu. Die Dialoge, besser Streitereien, führen jedoch direkt in persönliche Tragödien der meisten Anwesenden. An Action tut sich nicht allzu viel. Die wahre Dramatik spielt sich in den Seelen der Betroffenen ab, die keine Scheu haben, diese der Öffentlichkeit in aller Breite offen zu legen.
Regisseur Torsten Fischer hat den See zum Hauptdarsteller gemacht. Herbert Schäfer hat ihn an die Hinterwand der Bühne gezaubert und lässt ihn alle Stückl´n spielen. Der Mond geht termingerecht zu Kostjas Drama auf, Tags darauf präsentiert sich das Gewässer verlockend sonnig zum Fischen, Schwimmen und Bootfahren, um am Ende die Tragik in düsteren Wellen gegen das Ufer schlagen zu lassen. Immer ist es die Liebe in allen ihren Schattierungen, die für Verwirrungen und Probleme aller Art sorgt. Kostja (Nils Arztmann) ist unglücklich in Nina (Paula Nocker) verliebt. Sie will Schauspielerin werden und übernimmt die Hauptrolle in dessen Stück. Ist es Eifersucht oder gesundes Urteilsvermögen, das Sandra Cervik als Irina mit provozierenden Zwischenrufen zum Abbruch der Vorstellung verleitet? Sie und ihr Sohn lieben einander so sehr, dass unschuldig erotische Funken zwischen den beiden sprühen. Man nimmt ihr auch ab, dass ihr um einiges jüngerer Liebhaber, der arrivierte Autor Boris Trigorin (Claudius Stolzmann), nach einem amourösen Ausflug zur blutjungen Nina recht bereitwillig wieder in ihren Schoß zurückkehrt.
Julian Valerio Rehrl alias Céline Dion © Moritz Schell JAMES BROWN TRUG LOCKENWICKLER Einfühlsames Plädoyer für das Anderssein
Für uns ist eine Frau mit schwarzem Vollbart nicht ungewöhnlich. Tom Neuwirth hat der Welt erfolgreich erklärt, dass er Conchita Wurst ist und auch so wahrgenommen werden will. Und niemand zweifelt daran, spätestens seit dem Sieg im Eurovisions Song Contest. In Frankreich dürften diesbezüglich die Uhren noch etwas hinten nachgehen. Jacob, Sohn eines biederen Elternpaares, wandelt sich mehr und mehr zur gefeierten Sängerin Céline Dion. Aus Mama und Papa werden Pascaline und Lionel und er, der von ihnen liebevoll Muck bzw. Muckl gerufen wird, will partout nicht mehr so genannt werden. Die genervten Eltern erhoffen sich Besserung in einer Anstalt. Aber statt seine natürliche Identität zu finden, bereitet er sich dort auf die große Tournee „Road to the South“ vor. Eine geheimnisvolle Psychiaterin und Jacobs Freund Philippe sind keine Hilfe. Sie steht zum Anderssein, das sie mit ihrer eigenwilligen Lesart des Märchens vom Aschenbuttel zu erklären versucht. Philippe ist ein Schwarzer in einem weißen Körper, der alle den Vertretern seiner Hautfarbe widerfahrenen Zurücksetzungen auf sich nehmen zu müssen meint. Autorin Yasmina Reza hat den Mut, die damit verbundenen Auseinandersetzungen mit einem Augenzwinkern abzuhandeln, nicht ohne überaus aktuelle Denkanstöße zu liefern.
Sandra Cervik hat das Stück „James Brown trug Lockenwickler“ für die Kammerspiele der Josefstadt inszeniert und mit einer großen Portion Gefühl das Komödiantische darin herausgearbeitet. Die Kulissen sind weiße, weich scheinende Wände und ein karg möglierter Raum, eben wie man sich ein teures Irrenhaus vorstellt. Darin genießt gleich zu Beginn Julian Valerio Rehrl als Jacob, pardon als Céline Dion, den Erfolg am Ende einer Show. In dieser Euphorie können ihn auch seine Eltern nicht stören. Maria Köstlinger ist eine hinreißende Pascaline Hutner und Juergen Maurer ihr aus Unsicherheit von einem ins nächste Fettnäpfchen tapsender Mann Lionel.
Der Himbeerpflücker, Ensemble © Moritz Schell DER HIMBEERPFLÜCKER Aufruhr Zum weißen (Unschulds-)Lamm Mitte der 1960er-Jahre wurde „Der Himbeerpflücker“ geschrieben. Sein Autor, Fritz Hochwälder, war ein Betroffener. Als Jude und Sozialist war ihm, im Gegensatz zu seinen Verwandten, nach dem Anschluss 1938 die Flucht in die Schweiz geglückt. Er konnte von außen beobachten, was sich im Dritten Reich getan hat. Mehr als 20 Jahre später hat er die Verdrängung seiner ehemaligen Landsleute mit diesem bitterbösen Drama durchbrochen. Kurz der Inhalt: Jeder der von Hochwälder vorgeführten Honoratioren einschließlich des Hausknechts hat Dreck am Stecken. Ihnen hängen Verbrechen nach, die auch mehr als 20 Jahre nach Ende der Schreckensherrschaft nicht verjährt sind. Dazu kommt kistenweise Zahngold, das ein gewisser Ernst Meiche im Rückzug in Bad Brauning hinterlegt und dem Bürgermeister zu sagenhaften Reichtum verholfen hat. Wie ein Donnerschlag hallt es durch die liebliche Ortschaft, dass der als Himbeerpflücker bekannte Obernazi nun höchstpersönlich erschienen ist. Allerdings kennt ihn niemand persönlich, abgesehen vom Hausknecht. Hochwälder hat sich in der daraus folgenden Verwechslungskomödie von Gogols Revisor inspirieren lassen, allerdings mit einem ernüchternden Schluss: Es triumphiert das Böse. Es bleibt alles beim Alten – und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Stephanie Mohr hat in ihrer Inszenierung für die Kammerspiele ein Wirtshaus raffiniert wie einen Fuchsbau angelegt. Nur schade, dass sich wichtige Verhandlungen an der tiefliegenden Rampe abspielen und damit dort sitzende Schauspieler hinter den Köpfen der davor Sitzenden verschwinden. Im Übrigen behält aber der schwarze Humor der Wahrheit die Oberhand. Drei sehr unterschiedliche Frauen weben durch das sonst männlich dominierte Ensemble. Susanna Wiegand ist die dicke herzenswarme Burgerl, Paula Nocker muckt als Sieglinde mit rotem Haar gegen ihren Vater auf und zuletzt gibt es noch die versoffene Gangsterbraut Grappina (Martina Stilp).
Wenn für Kerz am Ende auch die Handschellen klicken, so scheint es doch, dass er einer der wenigen Menschen ist, denen in diesem ewig stinkenden Sumpf so etwas wie Moral zugesprochen werden kann. Johanna Mahaffy als Lulu © Christian Wind LULU Die neue Gattung Männer fressender Tiere
Ein Mädchen erscheint kurz auf der Bühne, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Vielleicht hat sie vergessen, den Computer abzudrehen oder die Milch vom Herd zu nehmen. Jedenfalls ist die junge Frau sehr bequem gekleidet, mit lockerer Bluse und weiter Hose. Vermutlich handelt es sich bei dieser kühlen Dame um Lulu, an deren dramatischer Darstellung Frank Wedekind fast sein ganzes Leben gearbeitet hat, seine Kämpfe mit einer Zensurbehörde ausfocht und schließlich aus zwei Stücken eines machte, das lange nach seinem Tod, nämlich erst 1988(!) durchgehend zu sehen war. In der Zwischenzeit hatte der Name Lulu jedoch bereits einen Ruf wie Donnerhall, nicht zuletzt, weil Alban Berg den Stoff vertont und das Fragment einer zumindest vom Titel her populären Oper geschaffen hat, die postum 1937 erstmals aufgeführt wurde. Möglicherweise schreibt auch die Bearbeitung von Elmar Goerden Literaturgeschichte, da sie eine Hauptdarstellerin zeigt, die in keiner Weise dem faszinierenden, Männer fressenden Tier entspricht und den vielen weiblichen Facetten dieser Gestalt einen völlig neuen Frauentyp hinzufügt.
In Goerdens Regie sind es zwei Herren – pardon! – vorgerückten Alters (Joseph Lorenz, Michael König), Martin Niedermair als Vertreter der jungen Verehrer und Susa Meyer als die lesbische Martha Gräfin von Geschwitz, die sich um Leib und Liebe von Johanna Mahaffy als Lulu bemühen. Wedekind wird freundlicherweise immer wieder zitiert, da es sich um den Versuch einer Aufführung seines Stücks handelt – also um Theater im Theater. Den Löwenanteil machen jedoch lautstark ausgetragene Streitereien unter den Beteiligten aus. Wie es sich für eine zeitgemäß woke Inszenierung gehört, wird dabei Erotik ausgespart. Gut, Lulus zweiter Ehemann Eduard Schwarz ist Maler und hätte als Künstler eine Ahnung von Sinnlichkeit.
Was ihr wollt, Ensemble © Moritz Schell WAS IHR WOLLT Wirklich Shakespeare im Londoner Nebel?
Die Liebe, diese blöde Liebe schafft bis zum Schluss ein Durcheinander höchsten Grades. Verschärfend dazu hat William Shakespeare ein Zwillingspaar in die Handlung eingeführt und lässt die Sehnsucht so lange kreuzweise über die Gestade Illyriens strömen, bis sich die Verliebten in diesem Knäuel an sinnlichen Gefühlen selber nicht mehr zurecht finden. So besehen, kann es sich nur um eine Komödie handeln, in der bittersüßer Herzschmerz das beste Mittel ist, das Publikum zum Lachen zu bringen. Herzog Orsino schmachtet nach Gräfin Olivia, umsonst, diese wiederum verknallt sich in Cesario, der als Bursch verkleideten Viola, auch umsonst, der, also besser sie, hat sich an den Herzog verloren. Dieses von unerfüllter Brunst klebrige Dreieck zieht wiederum andere Glücksritter an, so den Bösling Malvolio, dem Sir Toby und Fabian gemeinsam mit der Haushälterin Maria einen bösen Streich spielen. Über all dem treibt der Narr seinen Schabernack, rührt mit seinen Bonmots fleißig in der trüben Suppe und hat seinen Spaß daran, wenn es rund um ihn herum drunter und drüber geht.
Emmerich Steigberger setzt auf eine leere Bühne, wohl um Übersicht in hellgrauem Nebel zu schaffen. Gefordert ist die Fantasie. Dank der grandiosen Personenführung wird aus der anfänglichen Sprachverwirrung jedoch bald reiner Genuss am feinen Spiel des Ensembles und mit etwas Aufmerksamkeit erwirbt man sich sogar den Überblick über die einzelnen Figuren. Ein auffälliges Paar sind Stan Laurel & Oliver Hardy, pardon, der versoffene Sir Toby (Robert Joseph Bartl mit sonorem Bass) und der etwas unterbelichtete Sir Andrew (Matthias Franz Stein). Aus Antonio und Valentin versucht Markus Kofler zwei Gestalten zu formen, während Alexander Strömer neben Curios als Maria sehr resolut erscheint und mit Fabian (Ljubiša Lupo Grujčić) wunderbar zusammenarbeitet. Dominic Oley als Malvolio lässt den Komiker von der Leine, wenn er in gelben Unterhosen und mit einem unvergleichlich blöden Grinsen seiner Herrin gegenüber tritt.
Gott, Ensemble © Moritz Schell GOTT oder wem sonst gehört das Leben? Elisabeth Gärtner hat beschlossen, nicht mehr leben zu wollen. Sie ist zwar nicht mehr jung, aber kerngesund. Sie leidet weder unter Depressionen, noch sonstigen psychischen Problemen. Der einzige Grund für sie wurde ihr von ihrem Gatten auf dem Sterbebett mitgeteilt: „Mach´ es richtig!“ Nach seinem Tod ist sie in ein Sinnesloch gefallen, es gibt für sie keine Perspektiven, die ihr von der Natur zugestandenen Jahre nur annähernd so zu verbringen wie in den vielen Jahrzehnten an der Seite ihres Mannes. Das gängige Mittel zum sanften Suizid, Natrium-Pentobarbital, wurde nicht genehmigt. Ein Ethik-Rat tritt zusammen, um an diesem Fall die Mitwirkung von Medizinern am Suizid zu diskutieren. Titel dieses Denkstücks ist „GOTT“, verfasst von Ferdinand von Schirach, seines Zeichens Schriftsteller und Jurist. In der jeweiligen Argumentation wird auch penibel zwischen „aktiver Sterbehilfe“, „Indirekter Sterbehilfe“, „passiver Sterbehilfe“ und „Beihilfe zum Suizid“ unterschieden. Die Verfassungsgerichtshöfe von Deutschland und Österreich haben beinahe gleichlautend das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ geregelt und dieser Causa ein zeitgemäßes Regelwerk zugrunde gelegt, ohne jedoch auf das jeweilige Individuum einzugehen und ernsthaft die tief liegenden Gründe zu erörtern, die hinter dem jeweiligen Todeswunsch stehen. Die Expertenrunde in den Kammerspielen der Josefstadt besteht ausschließlich aus Männern, ausgewählt von Regisseur Julian Pölsler. Die einzige Frau ist Elisabeth Gärtner, und das nur aus dem einzigen Grund, dass sich der Darsteller von Richard Gärtner (Johannes Seilern) schwer verletzt hat. Lore Stefanek hat diese Rolle im letzten Moment übernommen und wird damit zum emotionalen weiblichen Zentrum in dieser zumeist kopflastigen Besprechung.
Die Kleinbürgerhochzeit, Ensemble © Moritz Schell DIE KLEINBÜRGERHOCHZEIT Brechts Pointe ist das Desaster
Bei der Besetzung der armseligen Kreaturen, die unbedingt der Meinung sind, die Vermählung von zweien aus ihrem Kreis festlich begehen zu müssen, konnte er ins Volle greifen. Bevor jedoch die grandiose Liste des Ensembles aufgezählt wird, noch ein Wort zur Bühne: Alexander Martynow war gefordert, aus Spannplatten eine Bruchbude zu bauen, diese mit zerbrechlichem Mobiliar auszustatten und bei Bedarf die Wände wackeln oder Teile von der Decke herabprasseln zu lassen. Im Stück ist es der Bräutigam (Alexander Absenger), der alles selbst gebastelt hat, allerdings mit schlechtem Leim, ungenügend Splinten und vor allem ohne die Sachkenntnis eines Handwerkers.
Der große Diktator, Ensemble © Moritz Schell, Philine Hofmann Wann a klana Jud´ größer is´ als DER GROSSE DIKTATOR
Charlie Chaplin war mit dem scheinbar schwachen Bürschchen, das am Ende die Stärksten aufs Kreuz legt, berühmt geworden. Zu seinen Filmen durfte von Herzen gelacht werden und die Zuschauer, die selten zu den Besitzenden und Mächtigen zählten, konnten sich mit ihm identifizieren. Ob sie die Botschaft, die er in seinem Film „The Great Dictator“ auf die Leinwand bringen wollte, wirklich verstanden haben, darf jedoch bezweifelt werden. 1940 waren die USA noch nicht in den Zweiten Weltkrieg eingetreten und einem Großteil der Amerikaner war es wohl ziemlich egal, warum da drüben in Good Old Europe die Völker einander bekriegten. Manch einem dürften die Flüchtlinge aufgefallen sein, vor allem die Juden, die sich vor den Nazis in Sicherheit gebracht hatten. In der Filmindustrie war man diesbezüglich aufmerksamer. So trug der aus einer jüdischen Familie stammende Produzent und Regisseur Alexander Korda an Chaplin die Idee heran, das berühmte Hitlerbärtchen für eine bittere Verwechslungskomödie zu nutzen. Ein Streifen mit Ewigkeitswert war damit geboren, der nach wie vor über Wahnsinn und Grausamkeit wegen der ihnen immanenten Dummheit schmunzeln lässt.
In Zeiten, in denen freie Länder von gierigen Autokraten überfallen werden und das Völkerrecht mit Füßen getreten wird, kann über derlei blutrünstige Bestien nicht genug gelacht werden. Freilich ist es nicht lustig, was da im Osten passiert, aber auch die Schwächsten haben die Möglichkeit, ihren Peiniger ob seiner hilflos anmutenden Verkrampftheit, stets nur Böses zu tun, einfach auszulachen. OK, wir tun uns in diesem Punkt leichter als beispielsweise jemand, dessen Haus zerbombt wurde. Aber irgendwo muss ein Anfang gemacht werden, und wenn es in den Kammerspielen passiert. Regisseur Dominic Oley hat Chaplins Film für die Bühne bearbeitet – und ist aufgrund eines Ausfalls einen Tag vor der Premiere für den erkrankten Darsteller des Kommandeurs Schultz eingesprungen. Bereits der Beginn ist ernsthaft witzig, mit einem Stummfilm als „Vorspann“, in dem Kostüme aus einem explosiven Koffer verteilt werden und sich ein Mann zum Ungarischen Tanz Nr. 4 rasieren lässt. Die Komik behält die Oberhand, auch als die ersten Schergen als Sturmtrupp im Ghetto auftauchen und einen kalten Schauer durch die Szenerie wehen lassen.
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