Ein amüsanter Versuch, Diskussionen zu LGBTQ+ aus dem puritanischen England nach Wien zu importieren
Leicht hat es das in Latex gewandete Ensemble nicht. Es muss auf einem Lufthüpfkissen balancieren, beim kindlichen Herumtollen ernsthafte Texte sprechen und fallweise mit Klimmzügen eine beachtliche Wand zur „himmlischen“ Ebene überwinden. Erdacht hat sich diese wackelige Bühnenausstattung das Team um Regisseurin Martina Gredler, die das 2023 in London uraufgeführte Stück „THE BOYS ARE KISSING“ des Britisch-Iranischen Autors Zak Zarafshan für das Volkstheater inszeniert hat. Der Spaß ist aber nicht zu übersehen, wenn es darum geht, Probleme aufzuarbeiten, die im Grund gar nicht existieren dürften. Die zwei neunjährigen Buben Samir und Lucas (dargestellt von gleichaltrigen „sittsam“ hüpfenden Mädchen) küssen sich im Schulhof. „Skandal!“ ruft die Vorsitzende des Elternbeirates, der umgehend ein Gespräch der Eltern der Kinder fordert. Die sich daraus entwickelnde wenig gedeihliche, aber umso aufschlussreichere Debatte trägt die Handlung, die sich doch in wesentlichen Punkten vom ähnlich aufgebauten „Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza unterscheidet.
Die Eltern von Lucas sind längjährige Bewohner des Speckgürtels. Matt (Simon Bauer) und Sarah (Karoline Reinke) eiern recht ungeschickt herum, wenn sie von Amira (Nancy Mensah-Offei als bedenklich Hochschwangere) und Chloe (Katharina Kurschat) auf ihre Einstellung zu alternativen Lebensweisen angeschossen werden. Immerhin sind die beiden zugezogenen Frauen ein Ehepaar und Mütter per künstlicher Befruchtung. Dazu pflegen sie ein den anderen gegenüber luxuriöses Dasein mit Yoga, neuer Kücheninsel und Trampolin im Garten.
Es fliegen die Fetzen, getränkt mit Klischees auf beiden Seiten. Hilfe im Diskurs kommt von oben. Nick Romeo Reimann und Luca Bonamore sind die hinreißend komischen Schutzengel aller Queers. Analis und Klitoris mischen die beiden Ehepaare ordentlich durcheinander.
Als bei der Geburtstagsparty von Lucas, ohne Samir, der Watschenbaum umfällt, sind sie sexy Polizisten, die auf ihre spezielle Weise für Recht und Ordnung sorgen. Als Ultima Ratio bleibt ihnen nur ein fantastischer Zeitsprung. Sie beamen den Streit ins Jahr 2041 und erscheinen als die erwachsenen Söhne. Auf die harsche Abrechung mit den jeweiligen Eltern folgt nolens volens das Einsehen der vom Nachwuchs Gescholtenen. Stehen bleiben im Raum Fragen wie: Dürfen „queere“ Inhalte im Lernstoff erlaubt sein? Oder: Hat das Todschlagsargument „Es geht hierbei nicht um uns! Es geht um die Kinder!“ überhaupt Berechtigung? Man könnte auch fragen, warum die Aufregung? Es mag im anglikanisch geprägten Great Britain Unbehagen gegenüber LGBTQ+ geben, aber bei uns, den traditionell aufgeschlossenen Wienern? Dazu meint Dramaturg Matthias Seier, dass auch hierzulande und – wenn man über die Grenzen hinaus blickt – weltweit durch den Vormarsch der Rechten ein Offenhalten des Bewusstseins, und sei es durch eine schräge Komödie, nicht eindringlich genug angeregt werden kann.
Ein Lehrbeispiel für den Verlust jeder Sicherheit vor einer vergessenen Vergangenheit
Michael Haneke erzählt in seinem Thriller „Caché“ die bedrückende Geschichte eines wohlhabenden Ehepaares in einer noblen Wohngegend von Paris. Anne und Georges Laurent erhalten Kassetten mit anonymen Videos, auf denen einfach nur ihr Haus beobachtet wird. Der Hausherr ist irritiert und will der Sache auf den Grund gehen. Obwohl die beschaulichen Sequenzen nichts Besonderes zeigen, fühlt er sich bedroht und hegt einen Verdacht. Ein grandioser Filmregisseur wie Haneke konnte aus dieser an sich wenig aufregenden Voraussetzung einen spannenden Streifen drehen. Er zeigt auf der raffiniert verwischten Grenze zwischen Realität und Video die empfindliche Psyche eines Mannes aus der besten Gesellschaft, der mit einem verdrängt geglaubten Vorkommnis in seinem früheren Leben nicht fertig werden kann.
Für das Volkstheater wurde Felicitas Brucker engagiert, daraus eine Bühneversion zu schreiben und gleich selbst Regie zu führen. Sie lässt das Publikum lange Zeit im Unklaren, worum es eigentlich geht – es muss ja nicht jeder den Film kennen – und hält sich bis zum Schluss an vage Andeutungen einer Schuld, die Georges gegenüber Majid, dem Sohn algerischer Arbeiter am elterlichen Gut, verfolgt. Dazu gleitet sie ohne klare Einschnitte über Szenen hinweg. Wenn man endlich zu wissen glaubt, wann wo zu sein, ist alles schon wieder ganz anders, aus Vormittag wird im nächsten Satz Abend und aus dem Wohnzimmer das TV-Studio, wo Georges an seiner Show arbeitet.
Die Bühne wurde von Viva Schudt adäquat gestaltet. Senkrecht und Waagrecht haben in der eleganten Wohnung jede Bedeutung verloren. Geschlafen wird aufrecht an der Wand und die quer daraus ragenden Blumenstöckel eignen sich wunderbar als Kletterhilfen. Screens dominieren das Heim, zum einen der großflächige TV-Bildschirm, der sich fallweise mit einem ordentlichen Kracher verabschiedet, und zum anderen als eine Fläche über der Bühne, die scheinbar autonom ihr Programm, vielleicht auch das besagte Video, zeigt.
Das Ensemble besteht aus vier Leuten für eine Fülle an Rollen. Sebastian Rudolph verliert als Monsieur Laurent sehr leicht die Nerven. Er gerät deswegen auch mit seiner lange geduldigen Gattin Anne (Johanna Wokalek) heftig in Streit, dem Sohn Pierrot (Moritz Grossmann) mit dem trotzigen Schweigen eines Pubertierenden und dem Schutz von Kopfhörern zu entgehen versucht.
Sie erscheint auch im Sender als Chefin von Georges und Grossmann als schweigendes Mädchen am Esstisch der Familie, an dem sie mit Bernardo Arias Porras als Gast bewirtet wird. Der wiederum verkörpert in der Hauptsache als vermeintlicher Urheber der Belästigung einen nach außen hin gelassenen Majid. Der sichtlich herabgekommene Mann haust in einer Substandard-Logis. Als Georges – die beiden kennen einander aus Kindertagen – ihn dort mehrmals besucht und Vorhaltungen macht, streitet er alles ab, nimmt sich aber mit einem grausig blutigen Schnitt durch die Kehle in dessen Anwesenheit das Leben. Will er damit auf den Tod seiner Eltern im Oktober 1961 hinweisen, als diese mit mehreren hundert Algeriern von der Polizei in die Seine und damit in den Tod getrieben wurden? Immer wieder tauchen bedrohliche Hacken und ein Hahn mit abgetrenntem Kopf auf. Sind sie das Symbol für das schwelende Problem, das zu diesem Selbstmord und zur Vernichtung einer gut situierten Existenz führt? Viele Fragen, deren Antworten von Felicitas Brucker geschickt den Menschen jenseits der Rampe überlassen werden.
Jan Philipp Gloger macht mit der Eröffnungsinszenierung Hoffnung auf erfreulliches Theater.
Am 16. Februar 1939 kam der gerade erst 26 Jahre junge Schriftsteller ums Leben. Der Ort seines Todes: KZ Buchenwald. Bis zuletzt war der aus einer jüdischen Familie stammende Literat voller Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden würde. Ein tragischer Irrtum! Als Ursache seines Ablebens wird Typhus angegeben. Woher kam nun die Zuversicht, die aus den erhaltenen Werken strahlt. Sie sind zwar von teils beißender Kritik an der ihn umgebenden Gesellschaft und einer für ihn unerträglichen Politik geprägt, als Metaphern für Dummheit und Ignoranz, aber stets unterhaltsame Satiren wie Sketche eines Kabarettabends, für den manche davon auch gedacht waren. Noch während seiner ersten Internierung im KZ Dachau schuf Soyfer zusammen mit dem Komponisten Herbert Zipper das „Dachau-Lied“, dessen zynischer Refrain mit dem über der Einfahrt angebrachten Satz „Arbeit macht frei!“ endet.
Der neue Direktor des Volkstheaters Jan Philipp Gloger hat ihm, dem in weiten Teilen der Bevölkerung unbekannten Dramatiker, die große Bühne zur Verfügung gestellt. Unter dem Titel „Ich möchte zur Milchstraße wandern!“ wird gleich zu Beginn Weltuntergang gespielt. Sonne und einige Planeten beschließen den Untergang des Menschen auf der Erde und schicken einen Kometen, der diese auf seinem Weg zu seiner geliebten Sternschnuppe mittels eines Einschlages vernichten soll. Vorgestellt wird dabei das Ensemble, eine engagiert spielende Truppe, aus der die Persönlichkeit von Samouil Stoyanov herausragt. Mit seiner unvergleichlichen Art Österreichisch zu sprechen und einer ungemein feinen Komik wird er zum liebenswerten Kometen, der letztlich die Erde verschont.
Sissi Reich als Professor Guck hat eine Möglichkeit entwickelt, unseren Planeten zu retten, scheitert aber verzweifelt an den Zeitgenossen. In „Astoria“ gründet Stoyanov als Mr. Rockford einen nicht existierenden Staat, was ihm aber durch das Missverständnis seiner attraktiven Gattin (Alicia Aumüller) und deren gestörtem Verhältnis zum Familienvermögen erschwert wird. Dazu kommen sattsam bekannte Fake News wie Arbeitslosigkeit null, unerschöpfliches Erdölverkommen und dichte Grenzen. In der „Schulstunde im Jahre 2035“ muss sich Tjark Bernau mit sagenhafter Dummheit seiner Schüler herumschlagen, bevor es in „Vineta“ in eine bedrückend tote Stadt geht, in der die Zeit umgedreht und Gestern zum Morgen wird. In mehreren Rollen erweisen sich auch Maximilian Pulst und Andrej Agranovski als vielseitige Darsteller. Musikalisch begleitet wird das Geschehen von Jimmy (Kostia Rapoport) am Klavier. Es ist eine Verbeugung vor Jura Soyfer, wenn zuletzt alle seine Texte in einem logischen Finale zusammengeführt werden und damit dem Publikum die Möglichkeit gegeben wird, diese Inszenierung mit großem Befall zu feiern.