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Gothik Modern, Ausstellungsansicht

George Minne (1866–1941), Drei heilige Frauen am Grab, um 1896 (Detail)

GOTHIC MODERN Überraschend frühe Wurzeln der Moderne

Gothik Modern, Anonymer Meister, 15. Jh., Zwei Gerippe

Gothik Modern, Anonymer Meister, 15. Jh., Zwei Gerippe

Über viele Jahrhunderte hinweg finden sich in der Kunst verblüffende Parallelitäten.

Das Entsetzen war groß, als Ende des 19. Jahrhunderts Maler und Bildhauer auf die akademischen Traditionen pfiffen. Die heute so bezeichnete Moderne forderte die Menschen mit ihrer revolutionären Sichtweise auf die Möglichkeiten der Darstellung in einer heute nahezu unvorstellbaren Radikalität heraus. Die Ästhetik der damals aufkommenden Strömungen wurde zu einem wandelbaren und bis heute heiß diskutierten Begriff. Es sollte über ein Jahrhundert dauern, bis sich auch die Kunstgeschichte so weit von diesem Schock erholt hatte, um hinter dem scheinbar absolut Neuen weit zurückliegende Vorbilder und Inspirationsquellen zu entdecken. Erstaunlicherweise wurde diese Erkenntnis in Skandinavien geboren. Das Ateneum Art Museum in Helsinki und das Nationalmuseum in Oslo präsentierten ein gemeinsames Forschungsprojekt in Form einer Ausstellung, die beweisen soll, dass viele der modernen Sujets und Motive mit der Gotik ungemein intensiv korrelieren.

Akseli Gallen-Kallela Ad Astra (2. Version), 1907 © Foto: Matias Uusikylä, Signe and Ane Gyllenberg

Akseli Gallen-Kallela Ad Astra (2. Version), 1907 © Foto: Matias Uusikylä, Signe and Ane Gyllenberg Foundation

Hugo Simberg Der verwundete Engel, 1903 Finnish National Gallery / Ateneum Art Museum Museum

Hugo Simberg Der verwundete Engel, 1903 Finnish National Gallery / Ateneum Art Museum Museum – Ahlström Collection, Helsinki © Foto: Finnish National Gallery / Hannu Aaltonen

Was haben nun Werke eines Egon Schiele oder einer Käthe Kollwitz mit der zum Himmel strebenden Frömmigkeit des späten Mittelalters gemeinsam? Ralph Gleis, der das nun in der Albertina angekommene Ausstellungsthema „Gothic Modern“ (bis 11. Jänner 2026) zur Chefsache erklärt hat, sieht als Hauptursache die Suche nach Wahrhaftigkeit. Die Kunstschaffenden der Moderne empfanden diese damals weit aufrichtiger verwirklicht als sie in den Akademien gelehrt wurde. „Themen wie Liebe und Sexualität, Tod und Trauer, Glaube und Zweifel sowie die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rollen und Identitäten waren bereits im Mittealter präsent und blieben innerhalb der Kunst der Moderne von zentraler Bedeutung“, so weit der Generaldirektor der Albertina.

Nach Hans Holbein d.J. Der tote Christus im Grab, 17. Jh., © Foto: Stiftsbibliothek St. Gallen

Nach Hans Holbein d.J. Der tote Christus im Grab, 17. Jh., © Foto: Stiftsbibliothek St. Gallen

Die Wanderung zwischen den Zeiten in den Propter Homines-Räumen wird damit zu einer faszinierenden Begegnung mit Werken, die wie eine mächtige Klammer zwei weit auseinander liegende Epochen nahezu spielerisch zusammenhalten. Als Schöpfer des Sujets wurde Vincent van Gogh und dessen „Kopf eines Skeletts mit brennender Zigarette“ gewählt. Ihm gegenüber steht der Totentanz aus der Werkstatt von Michael Wolgemut (1434-1519), auf dem Gerippe sowohl Edelfrau und Ritter als auch Ackermann und „jung Kint“ in einem „lustigen“ Reigen mit sich reißen. Es sind rund 200 Gemälde und Skulpturen, zum guten Teil aus eigenem Bestand, von Größen wie Gustav Klimt, Edvard Munch oder Otto Dix auf der Seite der Moderne im Verein mit Werken von den Stars ihrer Zeit wie Matthias Grünewald, Albrecht Altdorfer oder Hans Holbein d. J..

 

Arnold Böcklins „Toteninsel“, die zum Identifikationsbild einer ganzen Generation avancierte, ist eine dem Symbolismus zuzuordnende Metapher existentieller Ängste, die eine Natur ins Spiel bringt, deren spirituelle und unheimliche Kräfte schon bei Lucas Cranach d. Ä. in dessen Holzschnitt „Die Versuchung des hl. Antonius“ als Dämonen der Begierden den Menschen peinigen.

Dabei geht es auch um die Nacktheit, die sich bereits in frühen Darstellungen als vielseitig verwendetes Programm findet, angefangen vom gemarterten Körper des hl. Sebastian über die Vertreibung aus dem Paradies bis zur Verderbtheit im Hexensabbat, in dem die darin teils brutal offen verhandelte Erotik später von Max Beckmann sogar in eine expressionistische Anklage im Sinne der Frauen verwandelt wurde. Aber handelt es sich tatsächlich um Gotik und Mittelalter, wie in der Ausstellung immer wieder betont wird? Die Lebensdaten vertretener Maler wie Hans Springinklee (1490/1495-um 1540) oder Hans Balduin Grien (1484/85-1545) legen nahe, dass die Grenzen zur anbrechenden Neuzeit verwischt sind. So ist auch der ausgewiesene Renaissance-Künstler Albrecht Dürer (1471-1528) vertreten, der zum Vorbild für Alberto Giacometti in einer seiner Studien zu „Bildnis des Jakob Muffel“ wird. Die Antwort darauf und dafür erforderliche Erklärungen finden sich jedoch im von Ralph Gleis herausgegebenen Katalog „Gothic Modern“, erschienen im HIRMER VERLAG, München.

Martin Schongauer Der heilige Sebastian, letztes Drittel 15. Jahrhundert © ALBERTINA, Wien

Martin Schongauer Der heilige Sebastian, letztes Drittel 15. Jahrhundert © ALBERTINA, Wien

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