Kultur und Weindas beschauliche MagazinDietmar König, Sabine Haupt © Marcella Ruiz Cruz Der RAUB der SABINERINNEN Direktor Strieses Schmiere wird Programm
Es ist die feinsinnige Abrechung zweier ernsthafter Theaterleute mit dem Ehrgeiz untalentierter Dilettanten. Franz und Paul Schönthan, beides Schriftsteller, Regisseure und Journalisten, hatten offenbar die Nase voll von Wichtigtuern, die ihnen ungefragt selbstgebastelte Machwerke zusandten oder aufdrängten. Dazu erfanden sie einen armen Hund von Theaterdirektor, der mit seiner Truppe von Stadt zu Stadt tingelt und nicht selten vor leeren Sitzreihen seine unterbezahlten Darsteller auf die Bühne hetzt. Dem um Existenz gleichermaßen wie um Kunst ringenden Prinzipal kommen der honorige Gymnasialprofessor und die von ihm verfasste Tragödie gerade recht. Dass über diesen Schmarren schon im zweiten Akt der Vorhang fällt, ist die zu erwartende Pointe. Dazwischen wird jedoch auf alle Seiten hin ziemlich rüde mit dem Knüppel der Ironie geschlagen, sowohl auf die spießbürgerliche Familie des Möchtegernautors als auch auf das ohnehin leidgeprüfte fahrende Volk. Das allein wäre schon lustig genug. Svenja Viola Bungarten und Anita Vulesica haben jedoch noch eins draufgesetzt. Sie haben die Schmiere, die an sich nur für das Ensemble von Direktor Striese vorgesehen ist, auf die gesamte Inszenierung ausgedehnt. Als besonders origineller Einfall erschien Regisseurin Vulesica eine Umkehr der Geschlechterrollen. Was tut ein Schauspieler nicht alles für einen Lacher?! So wird der hilflose Prof. Gollwitz von Sabine Haupt und dessen überraschend heimgekehrte Gattin Friederike von einer eleganten Dame namens Dietmar König gespielt. Birgit Minichmayr ist Direktor Striese. Ihr wurde das originale Sächseln erspart.
Lilith Häßle, Inge Maux, Roland Koch, Alexandra Henkel, Michael Maertens © Matthias Horn SERGE Wortwitz mit Auschwitz
Yasmina Reza ist in Paris geboren, dort zur Schule gegangen und schließlich Schriftstellerin geworden. Wäre alles banal, findet sie, wenn sie nicht aus einer weit verzweigten jüdischen Familie stammte. Aber gerade diese Wurzeln erlaubten ihr einen besonderen, nämlich einen zynisch humorigen Blick auf das schrecklichste Geschehen, das ihren Vorfahren je widerfahren ist: auf den Holocaust. In „Serge“ stellt sie uns drei Geschwister als Abkömmlinge von Überlebenden der Shoa vor. Großvater, Großtante und Urgroßmutter sind in Auschwitz ermordet worden. Selbst sind Serge, Jean und Nana bereits am Rande des Pensionsalters und schauen auf ein Leben mit sehr wechselvollem Verlauf zurück. Serge hat eben seine Freundin Valentina verloren und versucht krampfhaft noch irgendwie Geld zu machen, um sich über Wasser zu halten. Jean steht ebenfalls vor einer Trennung und Nana strampelt sich ohne rechte Freude in ihrer Ehe und den zwei Kindern ab. Von Joséphine, der Tochter von Serge, kommt die Idee, das heute in Polen liegende Konzentrationslager Auschwitz zu besuchen, um eine allmählich erlöschende Betroffenheit in ihrem Anders-Bewusstsein als Juden wieder zu beleben.
Yasmina Reza hat es geschafft, in einem Roman eine Reise voller bitterer Pointen zu erzählen und möglicherweise ihre eigene gegenwärtige Position mit diesem Teil jüdischer Vergangenheit abzuklären. Regisseurin Lily Sykes hat daraus eine Bühnenfassung erarbeitet, die seit ihrer Uraufführung im Akademietheater regelmäßig für ein volles Haus sorgt. Ein unpersönlich eingerichteter Warteraum wird mit seinen vielen Ausgängen in verschiedene Orte und Zeiten zum Treff- und Streitpunkt der Mischpoche. Michael Maertens als Jean steht dem Projekt Auschwitz eher distanziert gegenüber, was auch aus seinen trockenen Bemerkungen dazu hervorgeht.
Die Eingeborenen von Maria Blut, Stefanie Dvorak © Susanne Hassler-Smith DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT Keine Wunder für Orange-Trachtträger
Es ist ein Privileg der Jugend, die Welt erfunden zu haben, alles zu wissen und gerechter als Salomon über die Alten urteilen zu können. Damit ist auch der von Lucia Bihler und Alexander Kerlin für die Bühne bearbeitete Roman von Maria Lazar eine gnadenlose Moralpredigt, in der vorgeborene Menschen als Schwächlinge, Deppen, bigotte Betschwestern oder Nazis vorgeführt werden. Die jüdische Schriftstellerin Lazar hat in ihrem Roman die Eingeborenen von Maria Blut als Protagonisten einer sie ablehnenden Gesellschaft beschrieben. Sie war der Seismograph, der in einer von ihr erfundenen Stadt, einem Wallfahrtsort, seiner Mirakel wegen vergleichbar mit Lourdes, die verhängnisvollen Schwingungen der 1930er-Jahre in Österreich verortet hat. Ja, man sollte dieses Stück mahnende Literatur lesen, daraus Schlüsse auf aktuelle, sich gefährlich an einem von Zukunftsängsten verdunkelten Horizont abzeichnende Tendenzen ziehen und sein Denken danach ausrichten. Aber bitte nicht undifferenziert! Vor allem nicht mit dem Hochmut der im Nachhinein alles besser Wissenden, wie es in dieser Inszenierung von Lucia Bihler im Akademietheater zelebriert wird.
Die Bühne dominiert eine riesige Marienstatue, deren Mantel von zwei geflügelten Adoranten getragen wird. Gütig, aber im Übrigen wenig um das Wohlergehen in ihrer Pilgerstätte bekümmert blickt diese angebliche Wundertäterin auf das fatale Geschehen zu ihren Füßen. Die sogenannten Eingeborenen erscheinen in orange salopper Tracht, ergänzt mit transparentem Kunststoff, und sofern es sich um namenlose Maria Bluter handelt, mit einer Kopfmaske mit gleichgültig scheinenden Gesichtszügen. Sie debattieren angeregt über Arbeitslosigkeit, Fehlinvestitionen und böse Gerüchte im Ort. Ihr wahres Gesicht zeigen u. a. der Sozialist und Arzt Dr. Lohmann (Philipp Hauß), die von ihm geschwängerte Haushälterin Toni (Stefanie Dvorak), der zur Führerfigur erstarrte Vinzenz, genannt Pimperl (Jonas Hackmann) oder Robert Reinagl als desillusionierter Pater Lambert. Der greise Rechtsanwalt Meyer-Löw (Dorothee Hartinger) hat aufgrund aufflammenden Judenhasses resigniert, anders dessen Haushälterin Marischka (Lili Winderlich), die lautstark ihr Recht von den Gois einfordert. Das Ensemble ist durchwegs in mehreren Rollen gefordert, was es stellenweise schwierig macht, als Zuschauer die jeweils richtige Person in die Handlung einzuordnen. Da diese aber in kleinen, schwarz zerhackten Sequenzen erzählt wird, lässt sich das Zeitalter der Eingeborenen wie löfferlweise verabreichte bittere Medizin letztlich doch heilbringend einnehmen. Zwiegespräch, Ensemble © Susanne Hassler-Smith ZWIEGESPRÄCH als Monologe in der Seniorenresidenz
Mittels einer Reise nach Jerusalem werden die Teilnehmer dezimiert. Die betagten Herrschaften sind nach eigner Aussage spielsüchtig und nehmen es in kauf, ausgesackelt und in die Finsternis gestoßen zu werden, wenn für sie kein Sessel übrig bleibt. Insassen einer Seniorenresidenz wollen schließlich unterhalten werden, damit ihr Geist wach bleibt. Peter Handke, der mittlerweile weiß, wie es sich anfühlt, 80 zu sein, lässt seinen Text mit dem irreführenden Titel „Zwiegespräch“ – es handelt sich eher um verzweifelte Monologe – in einem solchen Altenheim spielen. Es bleibt offen, ob er sich selbst mit dem Großvater meint oder irgend einen der anderen, am Rande der Demenz schrammenden Greise, die von adretten Pflegerinnen auf einem zum Rollstuhl umfunktionierten Bürosessel durch die Gegend geschoben und per Trillerpfeife kommandiert werden. Es sind eher Satzfetzen als sinnvoll zusammenhängende Texte, eher ein kurzes Aufflammen von Erinnerungen als Geschichten, wie sie ein Opa seinen Enkerln erzählt. Es geht darin um Zitate von Victor Hugo, Rilke oder Handke, um ein zugemauertes Hornissennest, um die Bühnendekoration eines Kindertheaters oder um ein Haus mit TV-Antennen am heimeligen Giebel. Als Zuschauer könnte man hinter jeder Wortspende den ganz tiefen literarischen Sinn suchen. Ob man ihn findet, bleibt dahingestellt. Sieger im Sesseltanz ist Martin Schwab. Er hat demnach auch den größten Textanteil, den er mithilfe der Souffleuse in wunderbares Schauspiel umsetzt. Aber wie es bei alten Leuten einmal so ist, wiederholen sie Tag für Tag dieselben kleinen Anekdoten aus ihrem Leben. Deswegen können die beiden Pflegerinnen aushelfen und ihrerseits dort fortfahren, wo einer der Senioren stecken geblieben ist. Brav sagen Elisa Plüss und Maresi Riegner alles auf, was den Großvätern (neben Schwab auch Hans Dieter Knebel und Branko Samarovski) am Herzen liegt. Sie könnten deren Enkeltöchter sein, wie auch die Regisseurin Rieke Süßkow und der Rest des Leading Teams. Beachtlichen Applaus erhielt diese Kombination aus männlich Alt und weiblich Jung bei der mutigen Uraufführung dieses Alterswerks von Peter Handke auf der Bühne des Akademietheaters. Bless Amada © Karolina Miernik ENGEL IN AMERIKA Bühnenfest für die queere Community
Das erste Wort hat Rabbi Isidor Chemelwitz, eine mit grauem Vollbart als Mann verkleidete Barbara Petritsch. Anlässlich eines Begräbnisses regt er sich furchtbar darüber auf, dass ein Enkelkind des Verstorbenen Eric heißt. Ein Goi-Namen passt überhaupt nicht in diese fromme jüdische Gemeinde, die einst aus Osteuropa in die USA eingewandert und in der Neuen Welt in ihren uralten Traditionen verhaftet geblieben ist. Regisseur Daniel Kramer hat damit ein Statement gesetzt und mit dieser humorigen Szene die Probleme mit Geschlecht, Hautfarbe, Religion und sexueller Orientierung aufgerissen. Zudem erinnert der Vorhang in den Regenbogenfarben an Pride-Parades und den Life-Ball, dem bunten Fundraising für die AIDS-Bekämpfung. Dadurch ist auch der Bogen aus den 1980er-Jahren in New York zum Heute in Wien gespannt und dem Publikum die Aktualität des in den frühen 1990ern von Tony Kushner verfassten und mit dem Pulitzerpreis bedachten Theater-Epos´ „Engel in Amerika“ ins Bewusstsein gehämmert. Was als Abrechung mit der Reagan-Ära, die mit dem Aufkommen der zumeist tödlich verlaufenden Geschlechtskrankheit zusammenfällt, gedacht war, kann sich durchaus auch anno 2022 sehen lassen. Geändert hat sich seit damals nichts. Trotz der verständlichen Aufgeregtheit, mit der die Figuren aufeinander prallen, vermisst man dennoch Ruhe und Nuancen. Vom Ensemble des Burgtheaters ist man das ständige Aufeinandereinbrüllen nicht gewohnt. Wie es funktionieren könnte, beweist Nils Strunk als Textverarbeiter Louis Tronson. Der (jüdische) Ex-Liebhaber von Prior Walter (Patrick Güldenberg), einem an AIDS leidenden Privatier, macht sich an den Mormonen Joe (Felix Rech) heran und erweckt mit einem scheuen Küsschen dessen tief in der Seele vergrabene Homosexualität.
Das weite Land, Ensemble © Matthias Horn Viel Zeit für den Spaziergang durch DAS WEITE LAND
Mit einem Selbstmord leitet Arthur Schnitzler die dramatisierte Psychoanalyse mit dem Titel „Das weite Land“ ein. Für den Dichter, selbst bekanntlich ein umtriebiger Belami, lag die allgemein mangelnde Bereitschaft zu ehelicher Treue offen auf der Hand. Ja, sie ist für ihn sogar die eigentliche Voraussetzung, um das Leben lebenswert zu gestalten. Alles andere, so das ungesagte Statement, ist Lüge, sowohl am Partner als auch an sich selbst. Daher ist es kaum überraschend, dass die Herren in diesem Spiel ihren Frauen gerne die Seitensprünge verzeihen und dafür Verständnis seitens der von ihnen Betrogenen erwarten. Wer dafür zu schwach ist, überlebt einfach nicht, wie der Klavierspieler, der sich wohl aus Liebeskummer erschießt und die ganze Gesellschaft, außer der Geliebten, an seinem Grab versammelt. Aber auch derjenige, der zu forsch sein Recht in fremden Betten behauptet, muss mit einem gewaltsamen Ableben rechnen. Dazwischen wird diskutiert, werden Geständnisse gemacht und gefährliche Bergtouren unternommen. Es gibt kaum Handlung, aber dennoch steht im Raum, in diesem Fall im Akademietheater, unglaubliche Spannung; was durchaus ein Verdienst von Regisseurin Barbara Frey ist. Sie gibt den Dialogen unendlich viel Raum und schafft damit jede Zeit der Welt für einen beschaulichen Spaziergang durch das weite Land der Seele. Der Hintergrund ist ein dunkler Vorhang, der Leute erscheinen und verschwinden lässt, ganz wie es beliebt. Nach dem durch einen Schuss unterbrochenen Klaviervortrag beginnt aus dem Off Markus Scheumann mit dunkler Stimme über allerhand Insektenlarven und Käfermaden zu referieren, die sich in verwesenden Leichen tummeln.
AM ENDE LICHT oder der Tag, an dem Mama starb
Simon Stephens ist Brite, lebt in London und schreibt Theaterstücke. Seine Themen findet er u. a. im Alltag einer nordenglischen Stadt (seinem Geburtsort Stockport) und schafft es trotzdem, diese so sanft zu überhöhen, dass sie auch auf dem Kontinent, in diesem Fall in Wien, das Publikum in ihren Bann ziehen. So geschehen mit der österreichischen Erstaufführung von „Am Ende Licht“ im Akademietheater am 25. Februar 2022. Es gibt keine Sensationen, keine großen Aufreger und was an Katastrophen passiert, hält sich durchaus in bewältigbaren Grenzen. Zum Inhalt: Christine (Dorothea Hartinger), eine Frau unter der Wahrnehmungsschwelle, stirbt überraschend, während sie in einem Supermarkt vor dem Regal mit den Spirituosen steht. Sie erzählt es uns selbst, ganz trocken, als ginge es sie gar nichts an. Die Mitglieder ihrer Familie sind derartig intensiv mit sich selbst und der Befriedigung ihres Geschlechtstriebes beschäftigt, dass sie Mamas Ableben erst spät mitbekommen. Als eine Art Wiedergängerin erscheint sie ihnen in teils fremden Gestalten, zum Beispiel als Claudia, Andrea oder Victoria, prallt aber an deren Unaufmerksamkeit ab. Regisseurin Lilja Rupprecht hat dazu die Wirklichkeit der Personen leicht entfremdet. Sie tragen alle Masken, so lange, bis sie den Verlust der Mutter realisieren. Erst dann kehren sie zu ihrer natürlichen Erscheinungsform zurück, um sie in einem hoch emotionalen Finale, das ungeniert an Gefühlsduselei kratzt, mit Live-Musik von Philipp Rohmer und Viktoria Mezovsky in die Weiten des Weltalls (in 3D) zu entlassen.
Tochter Jess (Marie-Luise Stockinger) erwacht neben einem fremden Mann. Philipp Hauß stellt sich als Michael vor und gesteht ihr, sie nicht gefickt zu haben, weil sie zu betrunken gewesen sei. Aus der Zufallsbekanntschaft entwickelt sich noch am selben Tag eine Liebesbeziehung, die mit einer gewagten Nummer auf dem Friedhof besiegelt wird. Die zweite Tochter, Ashe (Maresi Riegner), hat vom Junkie Joe (Sebastian Klein) ein Kind abgefangen. Nachdem sie erkennen muss, dass von ihm kein Unterhalt zu erwarten ist, schickt sie ihn in die Wüste, um als Alleinerzieherin das Leben zu bestreiten. Steven, der einzige Sohn von Christine, arbeitet seine Probleme an Andy ab, leidet unter Minderwertigkeitskomplexen und klammert sich an seinen Lover. Als schwules Paar schaffen es Max Gindorff und Bardo Böhlefeld, derartige Gefühle auch für einen Hetero ergreifend nachvollziehbar zu machen. Vater Bernard (Norman Hacker) leidet nicht nur an Fresssucht, er lässt sich auch von der alten Freundin Michaela (Dunja Sowinetz) zu einem flotten Dreier mit der interessanten Emma (Stefanie Dvorak) überreden. Wie der in die Jahre gekommene Mann seine Schüchternheit überwindet, ist eine der stärksten Szenen, denn sie pendelt virtuos zwischen schaumgebremster Geilheit und auflockernd komischen Momenten. Kurz und gut, es sind alles Elemente, die sich in den besten Familien finden und die Zuschauer nach zweieinviertel Stunden mit seltsamem Wohlsein erfüllen, das sich bei der Premiere in Gegenwart des Autors in Bravorufen und anhaltendem Applaus manifestiert hat. Barbara Petritsch, Katharina Lorenz © Marcella Ruiz Cruz DIE SCHWERKRAFT DER tristesten VERHÄLTNISSE
Wann sonst als jetzt drückt uns „Die Schwerkraft der Verhältnisse“ so gnadenlos zu Boden, dass wir es ohne Murren auf uns nehmen, 100 Minuten hinter der FFP2-Maske der Unglückseligkeit anderer zuzuschauen – obwohl es uns eigentlich gar nichts anginge, was nach dem Krieg in einer gewissen Berta Schrei, geb. Faust, an Depressionen vorgeht. Die 1948 in der Steiermark geborene Schriftstellerin Marianne Fritz hat deren Tristesse jedoch in einem Roman aufgearbeitet, der vom deutschen Regisseur Bastian Kraft in ein Theaterstück umgewandelt und als solches am 18. Dezember 2021 im Akademietheater uraufgeführt wurde. Im Grunde ist alles daran gut geraten.
Als Energiebündel erweist sich die spätere Ehefrau von Wilhelm. Stefanie Dvorak als Wilhelmine überfällt ihre Freundin am liebsten mit dem Satz „Berta, du Unglücksrabe!“ Wie recht sie doch hat! Nicht nur der Bub, auch die Tochter von Wilhelm (Anna Benner/Lily Macgregor) ist in der Schule eine Versagerin. Das Leben in der Enge einer winzigen Wohnung, die oft lange andauernde Absenz des Gatten, der als Chauffeur und gekonnter Lächler sein Geld verdient, und der missglückte Nachwuchs führen schließlich und endlich zum Entschluss, sowohl die beiden Kinder als auch sich aus der Welt zu schaffen. Der Selbstmord missglückt und Berta landet als Kindsmörderin in der von Ordensfrauen geführten „Festung“. Die einzige Gesprächspartnerin in diesem Gefängnis ist „Das weise Mütterchen“ (Barbara Petritsch mit gespenstisch langen weißen Haaren und auf uralt geschminkt). Von ihr stammen kluge Sätze wie „Das Leben ist eine Wunde, und diese Wunde heilt so schwer“ oder geraunte Andeutungen zum Umgang mit den „prägenden Tatzen des Lebens“. Die einzige, die aus dem Ganzen fröhlich ihren Vorteil ziehen kann, ist Wilhelmine. Für sie ist Wilhelm nun frei und sie weiß ganz genau, am 13. Jänner 1960, am Geburtstag von Berta, wird geheiratet.
ALLES, WAS DER FALL IST Philosophie zur Logik des Theaters
Abgeleitet von beidem wurden Überlegungen zur erschütternden Amokfahrt in der Grazer Innenstadt am 20. Juni 2015. Das Leitmotiv ist die leere Bühne, das Motto: Wirklichkeit kann auch enttäuschend sein. Mit raffinierten Videotricks wird diese Realität derart radikal infrage gestellt, bis man sich als Zuschauer nicht mehr im Klaren ist, was tatsächlich da oben abläuft und was eingeblendet ist. Echt ist zumindest das Red Bull, das beim Spritzen aus der Dose den Raum mit seinem süßlichen Duft nach Gummibärli erfüllt.
Ein SUV wie der, mit dem drei Personen gebötet und 36 Passanten verletzt wurden, wird zum Hauptdarsteller, der hier bereits bei der Flucht der Eltern des Amokfahrers aus Bosnien im Einsatz ist. Die Show stielt ihm lediglich ein Hund, der auf Befehl Sitz macht und sich mit treuherzigem Blick über die maskierte Menschenansammlung im Dunkeln wundert. Er ist selbstredend nicht der Mörder und spielt auch keinen solchen. Diese Rolle bleibt Philipp Hauß überlassen, wenn er die Logik des Theaters abhandelt, der zufolge die Welt mit der Sprache erfassbar gemacht werden soll.
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