Kultur und Wein

das beschauliche Magazin


 Jonas Hackmann, Marcel Heuperman, Laura Balzer © Susanne Hassler-Smith

Jonas Hackmann, Marcel Heuperman, Laura Balzer © Susanne Hassler-Smith

KASPAR Peter Handkes Publikumsherausforderung

 Markus Scheumann, Marcel Heuperman, Laura Balzer © Susanne Hassler-Smith

Markus Scheumann, Marcel Heuperman, Laura Balzer © Susanne Hassler-Smith

Ist Sprache ein Folterinstrument? Wenn ja, wer sind dann die Folterknechte?

Man denkt angesichts des Titels dieses Stücks von Peter Handke unwillkürlich an Kaspar Hauser, wenn sich ein pelziges Monster durch einen Plastikschlauch herabquält und lediglich in rudimentären Satzteilen stottert. Wie Vertreter einer Geheimpolizei, gewandet in schwarze Kunststoffmäntel und vor dem Gesicht eine Art Gasmasken in Form von Hundeschnauzen, preschen in einem Kleinwagen vier Gestalten herein. Sie beginnen auf diese der Sprache kaum mächtige Kreatur einzureden. Sie offenbaren ihm in penetranten Wiederholungen das Mysterium des vollständigen Satzes, mit Subjekt und Prädikat, und lassen ihr Opfer über die Begriffslehre, nach der ein Gegenstand erst existiert, wenn es einen Begriff für ihn gibt, grübeln. Erst dann, so ist der Botschaft der Einsagerinnen Laura Balzer, Stefanie Dvorak und der Einsager Jonas Hackmann, Markus Scheumann zu entnehmen, werde er ein anerkannter Teil der Menschheit. Kaspar hat in der Folge einiges an „Sprechfolterung“ und anderen Ungemachs zu erleiden, beispielsweise als Baby zu scheißen und sich den Kot ins Gesicht zu schmieren und ähnliche Unappetitlichkeiten.

 Jonas Hackmann, Markus Scheumann, Stefanie Dvorak, Laura Balzer © Susanne Hassler-Smith

Jonas Hackmann, Markus Scheumann, Stefanie Dvorak, Laura Balzer © Susanne Hassler-Smith

Ensemble © Susanne Hassler-Smith

Stefanie Dvorak, Jonas Hackmann, Laura Balzer, Markus Scheumann, Marcel Heuperman © Susanne Hassler-Smith

Entstanden ist diese philosophisch gewaltsame Abhandlung über die Disziplinierung durch Sprache im Zuge der Studentenbewegung der 68er. Man darf jedoch nicht vergessen, dass die Sprache in diesen Jahren noch das allgemein anerkannte Hilfsmittel zur verbalen Verständigung war. Seither hat sich allerdings Wesentliches daran verändert. Grammatikalisch korrekt gebaute Sätze sind längst ein Kulturgut, das von einer Bildungsschicht liebevoll gepflegt wird, mehr aber nicht. Dialoge haben andere Formen gefunden, einfache Symbole, kurze Wortbrocken oder simple Postings in den Social Media. Anders wäre die babylonische Sprachenverwirrung unserer Tage nicht zu bewältigen und außerdem ist die Gefahr bei ganzen Sätzen zu groß, damit irgendwas Unkorrektes von sich zu geben.

Damit gewinnt auch die Sequenz ohne Worte einen Anflug an Verständlichkeit. Das Ensemble versammelt sich schweigend in einer WG und macht es sich vor dem Fernseher gemütlich, nicht ohne vorher die Männer nackt unter die Dusche zu stellen. Die Pointe: In mitgebrachten Schachteln befinden sich automatische Gewehre, wofür immer? Noch um einiges geheimnisvoller sind die Glitzerclowns, die einander mit Messern bedrohen und nichts anderes im Sinn haben, als aufeinander einzuschlagen. Vor einer gefährlich blinkenden Atombombe hat Kaspar mit blutverschmiertem Gesicht in zerrissenem Abendkleid den großen Monolog. Chapeau vor einem mutigen und souveränen Marcel Heuperman. Der Text ist extrem schwer zu merken, weil wenig logisch, wenngleich er die von Regisseur Daniel Kramer nur locker verbundenen rätselhaften Teile unter einem Gedankendach zu vereinigen sucht und damit einmal mehr das Publikum vor gewaltige intellektuelle Herausforderungen stellt. Der Lohn für diese Mühe waren bei der Premiere tosender Applaus und Bravorufe einer Übermacht von Handke-Experten, die sowohl den Akteuren als auch dem Leadingteam gegolten haben.

Ensemble © Susanne Hassler-Smith

Stefanie Dvorak, Markus Scheumann, Marcel Heuperman, Jonas Hackmann, Laura Balzer © Susanne Hassler-Smith

 Sophie von Kessel, Ernest Allan Hausmann © Marcella Ruiz Cruz

Sophie von Kessel, Ernest Allan Hausmann © Marcella Ruiz Cruz

PHÄDRA, IN FLAMMEN Frauenfrust im alten Griechenland

 Sophie von Kessel, Ensemble © Marcella Ruiz Cruz

Sophie von Kessel, Ensemble © Marcella Ruiz Cruz

Ein antiker Mythos wird umgeschrieben und mit aktuellen Problemstellungen aufgeladen.

In den Tagen von König Theseus galt lesbische Liebe in Athen noch als Verbrechen, so die Vorgabe für das Stück „Phädra, in Flammen“. Zumindest von den Männern, so weiß man beispielsweise aus Malereien auf Vasen oder Berichten seriöser Philosophen wie Diogenes und Sokrates, wurde die Liebe zu einem Lustknaben nicht selten der sexuellen Begegnung mit einer Frau vorgezogen. Das Bumsen in männlicher Riege wurde mit dem edlen Wort Eros umschrieben. Wie es diesbezüglich um die Frauen stand, darüber schweigt sich der Unterricht in Altgriechisch auch in weltoffenen Gymnasien aus. Die georgisch-deutsche Theaterregisseurin Nino Haratischwili ist Spezialistin, geprägt von der Antike, wie sie selbst in einem Interview für das Programmheft sagt. Also darf man ihr glauben, wenn sie das Verhältnis zwischen Königin Phädra und Persea, der Braut ihres Sohnes, vom Hohepriester so erklären lässt, dass es die Götter erzürnt und deren Grant nur durch ein Pharmakos, ein Menschenopfer, besänftigt werden kann.

 Etienne Halsdorf, Dagna Litzenberger Vinet © Marcella Ruiz Cruz

Etienne Halsdorf, Dagna Litzenberger Vinet © Marcella Ruiz Cruz

 Etienne Halsdorf, Philipp Hauß © Marcella Ruiz Cruz

Etienne Halsdorf, Philipp Hauß © Marcella Ruiz Cruz

Es geht hier aber nicht um Unterricht in antiker Theologie, sondern um den Frust der beteiligten Frauen. Phädra ist die Schwester von Ariadne, die Theseus einst dazu verholfen hat, nach Tötung des Minotauros wieder aus dem Labyrinth herauszufinden. Phädra ist als dessen zweite Frau nun der Ehe müde und entlädt ihre Enttäuschung über das verpfuschte Leben an der Seite eines alternden Helden (Ernest Allan Hausmann) in einem mit hasserfüllten Pointen gespickten Monolog gleich zu Beginn. Man glaubt Sophie von Kessel die Verzweiflung einer fadisierten Königin.

Sie hat ihrem Gatten zwei Söhne geboren. Der eine ist der Thronfolger Demophon (Julian von Hansemann), der zweite Acamas, den Etienne Halsdorf als sympathischen Weichling gibt. Demophon geht auf Brautschau und bringt vereinbarungsgemäß Persea, die Tochter des Magistraten aus Eleusis mit nach Athen. Dagna Litzenberger Vinet lässt ihre Griechin als selbstbewusste, den Männern abholde junge Frau aus dem 21. Jahrhundert in die Gesellschaft der darob hilflosen griechischen Sagengestalten plumpsen. Sie verführt Phädra, die sich anfangs wider eigene Gefühle spröde zeigt und rüde Sätze von sich gibt wie: „Du weißt nicht, dass ich auf Schwänze stehe.“ Irgendwann wäre das Glück aber perfekt, denn Phädra steht in Flammen. Die Liaison kommt jedoch ans Licht des Vollmondes, den Regisseurin Tina Lanik mit Stefan Hagenreiter (Bühne & Kostüme) wirkungsvoll an der Hinterwand auf- und untergehen lässt. Die große Stunde von Panopeus (Philipp Hauß), dem unheiligen Hohepriester, ist gekommen. Angeblich weiß nur er, was die Götter wollen; zumindest weiß er aber, was er selber will: Die Vernichtung von Phädra, die mehr über ihn weiß, als ihm lieb ist...

 Julian von Hansemann, Ernest Allan Hausmann © Marcella Ruiz Cruz

Julian von Hansemann, Ernest Allan Hausmann © Marcella Ruiz Cruz

Stefanie Dvorak, Norman Hacker, Annamária Lang, Viktoria Mezovsky, Dörte Lyssewski © Matthias Horn

Stefanie Dvorak, Norman Hacker, Annamária Lang, Viktoria Mezovsky, Dörte Lyssewski © Matthias Horn

DIE BITTEREN TRÄNEN der mords überdrehten Petra von Kant

 Die bitteren Tränen der Petra von Kant Dörte Lyssewski © Matthias Horn

Die bitteren Tränen der Petra von Kant Dörte Lyssewski © Matthias Horn

Rainer Werner Fassbinders Versuch zu beschreiben, was Liebe nicht ist

„Ich mache keine Filme, ich werfe Bomben“, ist ein Zitat des 1982 verstorbenen Film- und Theatergenies Rainer Werner Fassbinder. Das Filmdrama „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ löste seinerzeit, also 1972, eine ordentliche Detonation aus. Gezeigt wird darin ein kurzer Ausschnitt aus dem Leben einer Modeschöpferin, die zwischen Kreativität und hysterischem Selbstmitleid zu einem Alterego des Drehbuchautors wird. Die darin beschriebene Petra von Kant war zwei Mal verheiratet und entdeckt mit der blutjungen Karin Thimm die Vielseitigkeit ihrer Gefühle. Sie verliebt sich in das Mädchen und macht aus ihr ein begehrtes Mannequin. Auf der Gegenseite kühlt die Beziehung jedoch rasch ab. Einen vorläufigen Schlusspunkt setzt die Rückkehr Karins zum Ehemann. Übrig bleibt eine Petra, die mit verletztem Stolz und der akuten Einsamkeit nicht umgehen kann. Die offen zu Tage getragene Verzweiflung kann jedoch nicht verhindern, dass sie – als Pointe Fassbinders – ein neues Abenteuer eingeht.

Obwohl schon viele Jahre über die Geschichte gezogen sind und sich die Gesellschaft krass gewandelt hat, wurde das dem Drehbuch zugrunde liegende Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder für das Akademietheater inszeniert. Regisseurin Lilja Rupprecht setzt Diskussionen und Annäherungen in einen kalt gefliesten Raum, ungemütlich, da vom Boden gegessen wird. In der ersten Szene schläft die Protagonistin zur Live-Musik von Viktoria Mezovsky / Jessica Choma unter einem Sessel ihren Rausch aus. Von ihrer Hilfskraft Marlene (Annamária Láng in einer stummen Rolle) wird Dörte Lyssewski als Petra wieder auf die Beine gebracht. Wirklich wach wird sie aber erst, als ihre Freundin Sidonie (Stefanie Dvorak) im Vorbeigehen Nina Siewert als Karin ankündigt. Der Blitz schlägt ein, als diese erscheint. Die Annäherung zwischen Petra und Karin erfolgt in subtiler weiblicher Zartheit, ohne jedoch in eine zu erwartende Erotik zu kippen; die Frauen bleiben mit ihrem Spaß aneinander lieber unter sich. Bis zur unvermeidlichen Trennung folgen Streitereien über das Wesen der Liebe, die sich jedoch in Klischees verfangen.

 Die bitteren Tränen der Petra von Kant Dörte Lyssewski, Nina Siewert © Matthias Horn

Die bitteren Tränen der Petra von Kant, Dörte Lyssewski, Nina Siewert © Matthias Horn

Eine ernsthafte Antwort darauf könnte das Interview mit Fassbinder (Norman Hacker), geführt von Stefanie Dvorak, geben. Es bleibt aber ebenfalls in seiner Zeit unverbindlich stecken. Letztlich tauchen auch Petras Tochter Gabriele (Safira Robens) und Mutter Valerie (wieder Norman Hacker) auf und geben ihren Senf dazu. Das Unglück scheint perfekt zu sein, bis Karin anruft und Petra zum 45. Geburtstag gratuliert...

Dietmar König, Sabine Haupt © Marcella Ruiz Cruz

Dietmar König, Sabine Haupt © Marcella Ruiz Cruz

Der RAUB der SABINERINNEN Direktor Strieses Schmiere wird Programm

Dorothee Hartinger, Birgit Minichmayr, Sabine Haupt © Marcella Ruiz Cruz

Dorothee Hartinger, Birgit Minichmayr, Sabine Haupt © Marcella Ruiz Cruz

Hemmungslose Übertreibung will partout die Römertragödie in eine Komödie verwandeln.

Es ist die feinsinnige Abrechung zweier ernsthafter Theaterleute mit dem Ehrgeiz untalentierter Dilettanten. Franz und Paul Schönthan, beides Schriftsteller, Regisseure und Journalisten, hatten offenbar die Nase voll von Wichtigtuern, die ihnen ungefragt selbstgebastelte Machwerke zusandten oder aufdrängten. Dazu erfanden sie einen armen Hund von Theaterdirektor, der mit seiner Truppe von Stadt zu Stadt tingelt und nicht selten vor leeren Sitzreihen seine unterbezahlten Darsteller auf die Bühne hetzt. Dem um Existenz gleichermaßen wie um Kunst ringenden Prinzipal kommen der honorige Gymnasialprofessor und die von ihm verfasste Tragödie gerade recht. Dass über diesen Schmarren schon im zweiten Akt der Vorhang fällt, ist die zu erwartende Pointe. Dazwischen wird jedoch auf alle Seiten hin ziemlich rüde mit dem Knüppel der Ironie geschlagen, sowohl auf die spießbürgerliche Familie des Möchtegernautors als auch auf das ohnehin leidgeprüfte fahrende Volk.

Sabine Haupt © Marcella Ruiz Cruz

Sabine Haupt © Marcella Ruiz Cruz

Lukas Vogelsang © Marcella Ruiz Cruz

Lukas Vogelsang © Marcella Ruiz Cruz

Das allein wäre schon lustig genug. Svenja Viola Bungarten und Anita Vulesica haben jedoch noch eins draufgesetzt. Sie haben die Schmiere, die an sich nur für das Ensemble von Direktor Striese vorgesehen ist, auf die gesamte Inszenierung ausgedehnt. Als besonders origineller Einfall erschien Regisseurin Vulesica eine Umkehr der Geschlechterrollen. Was tut ein Schauspieler nicht alles für einen Lacher?! So wird der hilflose Prof. Gollwitz von Sabine Haupt und dessen überraschend heimgekehrte Gattin Friederike von einer eleganten Dame namens Dietmar König gespielt. Birgit Minichmayr ist Direktor Striese. Ihr wurde das originale Sächseln erspart.

Im befremdlich für ihren Job g´scherten hiesigen Dialekt zieht sie als unruhiger Geist die Fäden; mit dem Ergebnis hörbaren Schmunzelns. Dass sich endlich bei Rainer Galke als Weinhändlerin Groß das Publikum vor Lachen biegen wird, hat sich ebenfalls nicht ganz erfüllt. Dessen stattliche Erscheinung, noch dazu in mächtiges Schwarz gehüllt, flößt eher bangen Respekt ein. Stefanie Dvorak schafft es, die beiden Töchter Paula und Marianne stets in der jeweiligen Rolle erkennbar werden zu lassen. Mariannes Gatte, der zurückhaltende Dr. Leopold Neumeister und ruhige Pol in diesem Wirbel, ist Lukas Vogelsang. Dank der quirligen Haushälterin Rosa (Dorothee Hartinger) kann er sich von einer Familienfeier lösen und den Skandal seines Schwiegervaters erste Reihe fußfrei miterleben. Julian von Hansemann ist als Verlegenheitsmime Emil Groß am Scaterhelm erkennbar, einem ähnlich markantem Merkmal wie das Federkleid von Annemarie Fischer, die als Papagei vom Käfig aus für Ordnung im Text und letztlich für den Untergang des Dramas „Der Raub der Sabinerinnen“ sorgt.

Birgit Minichmayr und Ensemble © Marcella Ruiz Cruz

Birgit Minichmayr und Ensemble © Marcella Ruiz Cruz

Serge, Ensemble © Matthias Horn

Lilith Häßle, Inge Maux, Roland Koch, Alexandra Henkel, Michael Maertens © Matthias Horn

SERGE Wortwitz mit Auschwitz

Michael Maertens © Matthias Horn

Michael Maertens als Jean © Matthias Horn

Zynisch humoristische Aufarbeitung des Holocaust 80 Jahre danach

Yasmina Reza ist in Paris geboren, dort zur Schule gegangen und schließlich Schriftstellerin geworden. Wäre alles banal, findet sie, wenn sie nicht aus einer weit verzweigten jüdischen Familie stammte. Aber gerade diese Wurzeln erlaubten ihr einen besonderen, nämlich einen zynisch humorigen Blick auf das schrecklichste Geschehen, das ihren Vorfahren je widerfahren ist: auf den Holocaust. In „Serge“ stellt sie uns drei Geschwister als Abkömmlinge von Überlebenden der Shoa vor. Großvater, Großtante und Urgroßmutter sind in Auschwitz ermordet worden. Selbst sind Serge, Jean und Nana bereits am Rande des Pensionsalters und schauen auf ein Leben mit sehr wechselvollem Verlauf zurück. Serge hat eben seine Freundin Valentina verloren und versucht krampfhaft noch irgendwie Geld zu machen, um sich über Wasser zu halten. Jean steht ebenfalls vor einer Trennung und Nana strampelt sich ohne rechte Freude in ihrer Ehe und den zwei Kindern ab. Von Joséphine, der Tochter von Serge, kommt die Idee, das heute in Polen liegende Konzentrationslager Auschwitz zu besuchen, um eine allmählich erlöschende Betroffenheit in ihrem Anders-Bewusstsein als Juden wieder zu beleben.

Lilith Häßle als Marion © Matthias Horn

Lilith Häßle als Marion © Matthias Horn

Roland Koch, Alexandra Henkel, Michael Maertens © Matthias Horn

Roland Koch, Alexandra Henkel, Michael Maertens © Matthias Horn

Yasmina Reza hat es geschafft, in einem Roman eine Reise voller bitterer Pointen zu erzählen und möglicherweise ihre eigene gegenwärtige Position mit diesem Teil jüdischer Vergangenheit abzuklären. Regisseurin Lily Sykes hat daraus eine Bühnenfassung erarbeitet, die seit ihrer Uraufführung im Akademietheater regelmäßig für ein volles Haus sorgt. Ein unpersönlich eingerichteter Warteraum wird mit seinen vielen Ausgängen in verschiedene Orte und Zeiten zum Treff- und Streitpunkt der Mischpoche. Michael Maertens als Jean steht dem Projekt Auschwitz eher distanziert gegenüber, was auch aus seinen trockenen Bemerkungen dazu hervorgeht.

Inge Maux, Martin Schwab, Michael Maertens © Matthias Horn

Inge Maux, Martin Schwab, Michael Maertens © Matthias Horn

Viel mehr hadert er mit der On-off-Beziehung zu Marion (Lilith Häßle), deren Sohn (alternierend Thomas Neumayer / Maximilian Kreuz) ihm ans Herz gewachsen ist. Nana (Alexandra Henkel) schließt sich der Gedenkfahrt nolens volens an, nicht ohne an ihrem Bruder Serge ständig etwas zum Nörgeln zu finden. Roland Koch verleiht der Titelfigur tatsächlich die müde Existenz eines Losers, der an unmöglichen Orten raucht und den Argumenten seiner Tochter Joséphine (Lilith Häßler) nichts entgegen zu setzen hat. Die einzig strahlende Figur ist Onkel Maurice (ungemein präsent: Martin Schab). Umsorgt von der resoluten Pflegerin Paulette (Inge Maux, auch als geheimnisvoll erscheinende jiddische Mamme) versucht er, den Jüngeren das Selbstbewusstsein eines Juden zu vermitteln. Aufgrund seines Alters und der Krankheit verlässt er aber die Familie, die nicht einmal im Falle seines Todes zu der ihrer Abstammung eigentümlichen tiefen Trauer und noch weniger zu einer von ihm gewollten Einigkeit findet.

 Die Eingeborenen von Maria Blut Stefanie Dvorak © Susanne Hassler-Smith

Die Eingeborenen von Maria Blut, Stefanie Dvorak © Susanne Hassler-Smith

DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT Keine Wunder für Orange-Trachtträger

 Die Eingeborenen von Maria Blut © Susanne Hassler-Smith

Die Eingeborenen von Maria Blut © Susanne Hassler-Smith

Schwer verdauliche Kost unbekömmlich zubereitet und zitzerlweise serviert

Es ist ein Privileg der Jugend, die Welt erfunden zu haben, alles zu wissen und gerechter als Salomon über die Alten urteilen zu können. Damit ist auch der von Lucia Bihler und Alexander Kerlin für die Bühne bearbeitete Roman von Maria Lazar eine gnadenlose Moralpredigt, in der vorgeborene Menschen als Schwächlinge, Deppen, bigotte Betschwestern oder Nazis vorgeführt werden. Die jüdische Schriftstellerin Lazar hat in ihrem Roman die Eingeborenen von Maria Blut als Protagonisten einer sie ablehnenden Gesellschaft beschrieben. Sie war der Seismograph, der in einer von ihr erfundenen Stadt, einem Wallfahrtsort, seiner Mirakel wegen vergleichbar mit Lourdes, die verhängnisvollen Schwingungen der 1930er-Jahre in Österreich verortet hat. Ja, man sollte dieses Stück mahnende Literatur lesen, daraus Schlüsse auf aktuelle, sich gefährlich an einem von Zukunftsängsten verdunkelten Horizont abzeichnende Tendenzen ziehen und sein Denken danach ausrichten. Aber bitte nicht undifferenziert! Vor allem nicht mit dem Hochmut der im Nachhinein alles besser Wissenden, wie es in dieser Inszenierung von Lucia Bihler im Akademietheater zelebriert wird.

 Die Eingeborenen von Maria Blut Philipp Hauß, Jonas Hackmann © Susanne Hassler-Smith

Die Eingeborenen von Maria Blut, Philipp Hauß, Jonas Hackmann © Susanne Hassler-Smith

Die Eingeborenen von Maria Blut © Susanne Hassler-Smith

Die Eingeborenen von Maria Blut © Susanne Hassler-Smith

Die Bühne dominiert eine riesige Marienstatue, deren Mantel von zwei geflügelten Adoranten getragen wird. Gütig, aber im Übrigen wenig um das Wohlergehen in ihrer Pilgerstätte bekümmert blickt diese angebliche Wundertäterin auf das fatale Geschehen zu ihren Füßen. Die sogenannten Eingeborenen erscheinen in orange salopper Tracht, ergänzt mit transparentem Kunststoff, und sofern es sich um namenlose Maria Bluter handelt, mit einer Kopfmaske mit gleichgültig scheinenden Gesichtszügen. Sie debattieren angeregt über Arbeitslosigkeit, Fehlinvestitionen und böse Gerüchte im Ort. Ihr wahres Gesicht zeigen u. a. der Sozialist und Arzt Dr. Lohmann (Philipp Hauß), die von ihm geschwängerte Haushälterin Toni (Stefanie Dvorak), der zur Führerfigur erstarrte Vinzenz, genannt Pimperl (Jonas Hackmann) oder Robert Reinagl als desillusionierter Pater Lambert. Der greise Rechtsanwalt Meyer-Löw (Dorothee Hartinger) hat aufgrund aufflammenden Judenhasses resigniert, anders dessen Haushälterin Marischka (Lili Winderlich), die lautstark ihr Recht von den Gois einfordert. Das Ensemble ist durchwegs in mehreren Rollen gefordert, was es stellenweise schwierig macht, als Zuschauer die jeweils richtige Person in die Handlung einzuordnen. Da diese aber in kleinen, schwarz zerhackten Sequenzen erzählt wird, lässt sich das Zeitalter der Eingeborenen wie löfferlweise verabreichte bittere Medizin letztlich doch heilbringend einnehmen.

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