Kultur und Wein

das beschauliche Magazin


Thomas Marchart, Adrian Stowasser, Viktoria Hillisch, Christina Saginth, Sam Madwar, Ensemble

Thomas Marchart, Adrian Stowasser, Viktoria Hillisch, Christina Saginth, Sam Madwar (Mödling), Ensemble © Bettina Frenzel

LEONCE & LENA Des Königs Versuch, ungestört zu denken

Christoph Prückner, Ensemble © Bettina Frenzel

Christoph Prückner, Ensemble © Bettina Frenzel

Georg Büchners Satire auf Popo und Pipi hat nichts von ihrer Aktualität und Attraktivität verloren.

Die Liebesgeschichte spielt in längst vergangenen Tagen, in denen das heutige Deutschland aus einer Vielzahl von Fürstentümern bestand. Einige davon waren so klein, dass man vom Königsschloss aus die Grenzen absehen konnte; behauptet zumindest Georg Büchner, das viel zu jung verstorbene Genie, das in seinem literarischen Schaffen seiner Zeit um ein gutes Stück voraus war. Das gilt auch für diese Persiflage, in der sich ein Prinz unendlich langweilt. Leonce hat nicht nur einen geistig sehr einfach gestrickten Vater, König Peter, sondern auch den Diener Valerio, der das Leben von der leichten Seite, besser gesagt, von der Weinflasche her zu betrachten pflegt. Als Leonce eine Unbekannte heiraten soll, tritt er mit Valerio die Flucht an. Dass die beiden dabei just auf die aus gleichem Grund ebenfalls abgehauene Lena treffen und sich die ohnehin füreinander bestimmten jungen Leute ineinander verlieben, ist der die Handlung tragende romantische Gag, der allerdings durch Büchners Text von einer zeitlos pointierten bis sarkastischen Abrechnung mit allgemein menschlicher Unzulänglichkeit weit überhöht wird.

Adrian Stowasser, Thomas Marchart © Bettina Frenzel

Adrian Stowasser, Thomas Marchart © Bettina Frenzel

Viktoria Hillisch, Ensemble © Bettina Frenzel

Viktoria Hillisch, Ensemble © Bettina Frenzel

Das Regieduo Vanja und Peter Fuchs hat den seit der Entstehung 1836 verwichenen knapp zwei Jahrhunderten insofern Rechung getragen, dass ein flacher Hügel in der Mitte der Drehbühne als Raum genügen muss. Er wird zum Schlafzimmer des Monarchen, zum Spielplatz des Prinzen und in der Folge zu all den Schauplätzen, an denen sich Dramatisches, Heiteres und Närrisches um die beiden Königskinder Leonce & Lena abspielt. Christoph Prückner erwacht als König Peter vom Reiche Popo und wird von gesichtlosen Bediensteten ins Gewand geschüttelt. Er wäre ja so gut aufgelegt, wenn er nur wüsste, woran ihn der Knopf in seinem Taschentuch erinnern sollte. Sein Sohn hingegen hat den Blues. Adrian Stowasser lässt seinen Leonce virtuos durch einen stattlichen Monolog über Fadesse bis zu tiefer Melancholie taumeln, aus der ihn die verführerisch schöne Tänzerin Rosetta (Anaïs Marie Golder) vergeblich zu locken versucht.

Leben kommt erst in den jungen Mann, als Valerio mit einem kleinen Pickup hereinbraust. Es wird gekifft, geblödelt und gerauft. Der guten Laune, die Thomas Marchart verbreitet, ist eben schwer zu widerstehen. Die beiden machen sich also auf den Weg nach Italien, während gleichzeitig die über die geplante Zwangsheirat ebenfalls erboste Lena, Prinzessin aus Pipi, die gleiche Fluchtroute wählt. Die liebreizende Viktoria Hillisch trägt bereits das Brautkleid, das ihr von ebenfalls gesichtslosen Zofen angelegt wurde. Eine davon befreit ihr Gesicht. Zum Vorschein kommt Christina Saginth, als Gouvernante ein ähnliches Kaliber wie Valerio, die nun alle Hände voll zu tun haben, die verrückte Jugend von Dummheiten abzuhalten und eine finale List zu ersinnen. Da der König meint, Wort halten zu müssen, werden Leonce und Lena kurzerhand zu Automaten erklärt, die von ihm „in effigie“, also in einer Art Vertretung, getraut werden. Jetzt ist sein Sohn König und Peter kann endlich das tun, was ihm in seiner Regierungszeit versagt geblieben war, nämlich ungestört denken.

Thomas Marchart, Christina Saginth © Bettina Frenzel

Thomas Marchart, Christina Saginth © Bettina Frenzel

Randolf Destaller, Hans Jürgen Bertram © Bettina Frenzel

Randolf Destaller, Hans Jürgen Bertram © Bettina Frenzel

IN GOETHES HAND Sanfte Satire auf gottgleiche Verehrung

Katharina Krause, Hans-Jürgen Bertram, Lisa-Carolin Nemec © Bettina Frenzel

Katharina Krause, Hans-Jürgen Bertram, Lisa-Carolin Nemec © Bettina Frenzel

Der Kult um den deutschen Dichterfürsten hat einen Namen: Johann Peter Eckermann

Der Schriftsteller Martin Walser konnte damit rechnen, von den klassischen Germanisten für dieses Stück heftig angefeindet zu werden. Ließ er doch gegenüber dem Größten seines Genres in deren Augen den nötigen Respekt vermissen. Walser zeichnet darin einen in die Jahre gekommenen Johann Wolfgang von Goethe als schrulligen Greis, dessen Lebenssinn nur mehr darin besteht, dass die von ihm begehrte Dame 20 und nicht 19 Jahre alt ist oder ob in seiner Gegenwart Brillen und Bärte getragen werden bzw. geraucht wird. Unterstrichen wird die Seltsamkeit durch den ihm hündisch ergebenen Famulus Johann Peter Eckermann. Der gute Mann verzichtet mit Wonne auf eigene Bedürfnisse. Seine Verlobte wird Jahrzehnte lang mit der Heirat hingehalten, das eigene dichterische Talent ordnet er dem verehrten Genius freudig unter und arbeitet ohne entsprechende Bezahlung an der Herausgabe des Gesamtwerks von Goethe. Walser hat den beiden so grundverschiedenen Gestalten „Szenen aus dem 19. Jahrhundert“ mit dem Titel „In Goethes Hand“ gewidmet und dabei nicht mit feiner Ironie gespart, weder bei Eckermann noch bei dem an sich unantastbaren Dichterfürsten.

Paul Barna, Johanna Rehm, Randolf Destaller, Katharina Krause © Bettina Frenzel

Paul Barna, Johanna Rehm, Randolf Destaller, Katharina Krause © Bettina Frenzel

Hans Jürgen Bertram, Lisa-Carolin Nemec, Bernie Feit © Bettina Frenzel

Hans Jürgen Bertram, Lisa-Carolin Nemec, Bernie Feit © Bettina Frenzel

Pof. Bruno Max, seit 25. Juni 2025 Träger des Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst, hat dieses mittlerweile 45 Jahre alte Stück auf seine Bühnen geholt und selbst inszeniert. Abgesehen davon, dass sich kaum mehr jemand darüber echauffiert, dass Goethe darin „einseitig entstellt“ würde, ist es doch eine unterhaltsame Unterrichtsstunde in den Nebensätzen deutscher Literatur wie z. B. Eckermanns „Gespräche mit Goethe“. Mit der von Robert Notsch gestalteten Bühne lassen sich im Handumdrehen die zahlreichen Schauplätze verwirklichen. Es beginnt mit der Aufbahrung Goethes, wo dessen Schwiegertochter Ottilie (Johanna Rehm) und Eckermann Wache halten.

Randolf Destaller verwandelt sich in dieser Rolle zum Schatten Goethes, der an dessen Seite in berührender Weise zusehends altert. Als hoffnungsfroher junger Dichter erklärt er seiner Langzeitbraut (Eva-Maria Scholz als reizendes Hannchen), dass ihn dieser fördern würde. In seinen besten Jahren wird er vom Objekt seiner Verehrung vollständig aufgefressen und muss sich noch in der letzten Nacht vor dem eigenen Tod im Traum mit dessen Apotheose herumschlagen. Hans Jürgen Bertram erscheint als Reinkarnation eines im Bewusstsein seiner Größe ruhenden Universalgenies. Er lässt sich von jungen Damen wie Gustchen (Lisa-Carolin Nemec) und Gertrud (Katharina Krause) seine Eitelkeit hegen, hat aber bei seinem dem Alkohol verfallenen Sohn August (Christian Kainradl) jeden väterlichen Einfluss verloren. Ein wahrlich bunter Hund in der Weimarer Gesellschaft ist dagegen der versoffene Diener Stadelmann in der Person von Bernie Feit. Das Stück erfordert eine große Besetzung, die vom übrigen Ensemble auch bei Kurzauftritten mit gewohnt beachtlichem Engagement bestritten wird.

Eva-Maria Scholz, Randolf Destaller © Bettina Frenzel

Eva-Maria Scholz, Randolf Destaller © Bettina Frenzel

Unten durch, Ensemble © Bettina Frenzel

Unten durch, Ensemble © Bettina Frenzel

UNTEN DURCH Eine Komödie als Anstoß der Erinnerung

Christina Saginth, Ensemble © Bettina Frenzel

Christina Saginth, Ensemble © Bettina Frenzel

Kriegsende und Friedensbeginn in den finsteren Tiefen der Stadt und seiner Bewohner

Bombenalarm und Granatentreffer haben im April 45 die Wiener, kriegsbedingt zumeist Kinder, Frauen und alte Männer, in die Luftschutzbunker hinabsteigen lassen. Gemeint waren mit diesen Orten der Zuflucht notdürftig befestigte Keller, die nicht selten selbst zu einem Massengrab wurden, wenn das Haus darüber durch einen Einschlag zur Ruine wurde. „Verschüttet“ war ein gängiges Wort in diesen Tagen, und wer aus den Trümmern gerettet wurde, hat ein lebenslanges Trauma mit sich herum getragen. Am 13. April war die Schlacht zu Ende. Die Sowjets hatten Wien befreit. Die Wehrmacht mit der gefürchteten SS und die Nazi-Bonzen waren vertrieben. Es durfte an Frieden gedacht werden, und an den Wiederaufbau eines zerstörten Landes, das nach der Bezeichnung Ostmark nun wieder Österreich hieß.

Fanny Alma Fuhs, Christina Saginth, Michael Reiter; Eric Lingens, David Stöckl © Bettina Frenzel

Fanny Alma Fuhs, Christina Saginth, Michael Reiter; Eric Lingens, David Stöckl, Philipp Stix © Bettina Frenzel

Jörg Stelling, Georg Kusztrich, Philipp Stix, Thomas Marchart, Fanny Alma Fuhs © Bettina Frenzel

Jörg Stelling, Georg Kusztrich, Philipp Stix, Thomas Marchart, Fanny Alma Fuhs © Bettina Frenzel

In diesen schrecklichen Tagen handelt „Unten durch – Eine Komödie vom Anfang des Friedens“. Man hat richtig gelesen, eine Komödie, ein Theaterstück zum Lachen. Der 1938 in Wien geborene Heinz R. Unger hat es geschafft, Erinnerungskultur ohne jeden Zynismus als Unterhaltungsprogramm aufzuarbeiten. Dabei hätte es unzählige Möglichkeiten zu bitterer Abrechnung gegeben. Tausende Wiener waren überzeugte und vor allem aktive Nationalsozialisten gewesen, die ihre Einstellung doch nicht von einem Tag auf den anderen ablegen konnten. Jetzt waren sie die ersten, die lauthals den Opfermythos propagierten, obwohl sie sieben Jahre zuvor dem Führer zugejubelt hatten. Die meisten von ihnen blieben in Amt und Würde und trugen dazu bei, dass ihre Missetaten unter einer Decke des Vergessens viel zu lange begraben blieben. Aber Unger hielt sich lieber an die kleinen Leute, die mit den großen Verbrechen nur am Rande zu tun hatten, oder selbst Opfer waren, wie die Juden, die als U-Boote überlebt hatten. Er erzählt anschaulich ihre Geschichte, die durchaus auch komische Elemente enthält und damit zur Erinnerung nicht nur einlädt, sondern vielmehr eine annehmbare Verpflichtung ist.

Eric Lingens, Thomas Marchart © Bettina Frenzel

Eric Lingens, Thomas Marchart © Bettina Frenzel

Fanny Alma Fuhs, Thomas Marchart © Bettina Frenzel

Fanny Alma Fuhs, Thomas Marchart © Bettina Frenzel

Einer dieser Mitläufer ist Herr Böhm, der sich vom Träger der roten Schleife mit Hakenkreuz zum Luftschutzhelfer mit weißer Armschleife gewandelt hat. Georg Kusztrich lässt ihn als sympathischen Gschaftlhuber die ihm anvertrauten Mitbewohner in die Sicherheit des Wiener Untergrunds führen. Regisseur Marcus Ganser selbst hat die weitläufigen Kellergewölbe als bedrückenden Wanderweg durch beredte Dunkelheit auf die Bühne gestellt. Dort befinden sich bereits die Sozialistin Frau Zapletal (Christina Saginth) und die hochschwangere Maria Reitmeier (Samantha Steppan).

Fanny Alma Fuhs sorgt sich als Fräulein Elf um ihren Freund, der nicht und nicht aus der Wohnung kommen will. Hans Tannenbaum (Thomas Marchart) hat dafür auch gute Gründe. Dort versteckt hat er den Holocaust überlebt und will nicht im letzten Moment den Schergen in die Hände fallen. Vermieter der Wohnung ist Hofrat Selznik, ideal besetzt mit Jörg Stelling. Parteimitglied wurde er angeblich durch ein Missverständnis. 1938 war er Kammerrat, was als Kamerad gedeutet wurde und ihm den beruflichen Aufstieg verschafft hat. Im Verlauf des unterirdischen Herumirrens entkommen sie der Streife von Feldgendarmen, angeführt von einem alten Mann (Michael Reiter), finden einen sterbenden SS-Mann (Eric Lingens) und treffen auf Toni Schmeiler, einen Opportunisten ersten Ranges, den Philipp Stix die kargen Tage im Weinkeller eines Restaurants gemütlich aussitzen lässt. Irgendwann ist es Zeit für den Aufstieg. Wieder an der Oberfläche werden sie von zwei russischen Soldaten (Eric Lingens, David Stöckl) empfangen. Sie haben Waffen, aber auch ein Akkordeon und ziehen die Siegesfeier einer Verhaftung der nun im Frieden Geretteten vor.

Samantha Steppan, Jörg Stelling © Bettina Frenzel

Samantha Steppan, Jörg Stelling © Bettina Frenzel

Minou M. Baghbani, Markus Tavakoli, Felix Frank, Philipp Stix © Bettina Frenzel

Minou M. Baghbani, Markus Tavakoli, Felix Frank, Philipp Stix © Bettina Frenzel

MEIN WUNDERBARER WASCHSALON Hass und Liebe einander fremder Welten

Mein wunderbarer Waschsalon, Ensemble © Bettina Frenzel

Mein wunderbarer Waschsalon, Ensemble © Bettina Frenzel

In diesem verdammten Land, das wir hassen und lieben, kann man alles haben, was man will. (Nasser)

Wenn eine Schlägertruppe mit nationalistischen Gesängen nächtens den „Kanaken“ auflauert und die damit gemeinten Immigranten ihrerseits mit illegalen Geschäften ans große Geld kommen wollen, werden Missstände aufgedeckt, mit denen die westliche Gesellschaft seit Jahrzehnten konfrontiert ist. Einen Beweis dafür liefert das Theaterstück „My Beautiful Laundrette“ von Brendan Murray. 1985 wurde es mit dem Drehbuch von Hanif Kureishi (*1955), einem britischen Schriftsteller mit pakistanischen Wurzeln, von Regisseur Stephen Frears verfilmt. Es könnte mit seiner vielschichtigen Problematik kaum aktueller sein, denn diese reicht von Fremdenhass über die muslimische Hartnäckigkeit in der Ignoranz von liberalen Werten und Frauenrechten bis zur Ablehnung von Homosexualität. Angesiedelt ist die Story in London, einem angeblichen Schmelztiegel der Kulturen, der aufgrund der britischen Kolonisierung eigentlich organisch gewachsen sein sollte. Wenn es nicht einmal dort funktioniert, was sollen dann Länder wie Österreich diesbezüglich besser machen können?! Gut, wir können stramm blau wählen, sowie in guter alter Tradition uns auf´s Matschkern über grassierenden Islamismus und derlei Übel verlegen, aber trotz aller Xenophobie zu „unserem“ Inder auf ein Curry oder zum Türken um günstiges Lammfleisch aus dem Waldviertel gehen.

Markus Tavakoli, Massud Rahnama © Bettina Frenzel

Markus Tavakoli, Massud Rahnama © Bettina Frenzel

Simon Brader, Stephan Bartunek, Clemens Fröschl © Bettina Frenzel

Simon Brader, Stephan Bartunek, Clemens Fröschl © Bettina Frenzel

Der deutsche Regisseur Felix Metzner hat „Mein wunderbarer Waschsalon“ als unsanften Denkanstoß für das Theater zum Fürchten inszeniert. Robert Notsch hat dazu die sozial benachteiligte Wohngegend im südlichen London auf die Bühne gezaubert, mit allem Drum und dran, von der finsteren Ecke für Gewaltausbrüche über den orientalischen Plüsch einer Wohnung bis zum fahrplanmäßigen Wirbel einer über die Rampe donnernden Eisenbahn. Dazwischen dreht sich der Waschsalon. Dessen Betreiber ist der betuchte Geschäftsmann Nasser, authentisch verkörpert von Markus Tavakoli. Das herabgekommene Etablissement wird von ihm als Liebesnest mit Freundin Rachel (Sibylle Kos) genützt und scheint im Übrigen eher eine Anstalt zur Geldwäsche zu sein. Finanziert wird es unter anderem von Nassers brutalen Partner Salim (Philipp Stix), der seine Einkünfte aus dem Handel mit Rauschgift lukriert. Fleisch gewordene Aggression sind die arbeitslosen Faschisten Genghis (Stephan Bartunek) und Moose (Clemens Fröschl), für die Fremde nur „Kanaken“ sind, die regelmäßig verprügelt werden müssen.

Im selben Viertel wohnt auch Nassers Bruder Papa (Massud Rahnama), ein in der Heimat einst hochgeachteter Journalist, der aus politischen Gründen geflüchtet ist, aber den Anschluss an seinen Erfolg verloren hat. Seit dem Ableben seiner englischen Frau ist er Alkoholiker, kümmert sich dennoch um seinen Sohn Omar. Felix Frank ist der planlos dahinirrende Bursch, dem auf väterliche Intervention der Waschsalon zur Führung übertragen wird, samt dem seltsamen Stammkunden Eddie (Hasiret M. Yavuz). Dort trifft er auf Johnny (Simon Brader), einen Schulkameraden und ehemaligen Faschisten. Die beiden jungen Männer verlieben sich und werden ein Paar, was wiederum Onkel Nasser auf die Palme bringt, denn Omar ist sein Wunschschwiegersohn. Minou M. Baghbani als Tochter Tania hat auf dieses Ansinnen jedoch eine klare Antwort: „Bevor ich den heirate, trinke ich meine eigene Pisse!“ Sie scheint im London des 21. Jahrhunderts angekommen zu sein, aber ihr bleibt keine andere Wahl als ihren Koffer zu packen und irgendwohin, nur weg von hier zu verreisen.

Simon Brader, Felix Frank © Bettina Frenzel

Simon Brader, Felix Frank © Bettina Frenzel

MARATHON Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss © Bettina Frenzel

MARATHON Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss, Ensemble © Bettina Frenzel

MARATHON Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss

Alexander Rossi, Ensemble © Bettina Frenzel

Alexander Rossi, Ensemble © Bettina Frenzel

Die Bühne ist das Parkett, auf dem bis zu spürbarer Erschöpfung getanzt wird.

Tanzen bis zum Umfallen, heißt die gnadenlose Devise. Eigenartig, aber das Vergnügen, sich zur Musik zu bewegen, hat zu allen Zeiten seltsame Blüten getrieben. So berichtet eine Chronik von einer bis zum tödlichen Ende gehenden Tanzwut anno 1518 in Strassburg. Die Gründe für solche Choreomanien, nach den Schutzheiligen Veitstanz oder Antoniusfieber genannt, sind bis heute rätselhaft geblieben. Dass der hochgiftige Biss der Wolfsspinne für anhaltende tanzartige Verrenkungen gesorgt hat, wird als Grund für die rasende Tarantella genannt. Heute ist es eher die Sucht nach der Öffentlichkeit, die Halbpromis als sogenannte Dancing Stars dazu verleitet, sich mehr oder weniger gekonnt im Kreis zu drehen und von einer launig agierenden Jury lächerlich gemacht zu werden. Im Amerika des Jahres 1932, in der großen Rezession, war es hingegen eine Überlebensfrage, nach Hunderten von Stunden rhythmischer Bewegung nicht abgekratzt zu sein. Immerhin lockte neben der Entdeckung durch Hollywood ein stattliches Preisgeld, um sich in Zeiten großer Hoffnungen, aber geringer Chancen diese unverstellbare Tortur anzutun.

Paul Barna, Eva-Christina Binder © Bettina Frenzel

Paul Barna, Eva-Christina Binder © Bettina Frenzel

Anna Sophie Krenn, Paul Barna © Bettina Frenzel

Anna Sophie Krenn, Paul Barna © Bettina Frenzel

Der US-Amerikanische Schriftsteller Horace McCoy beschrieb ein solches Turnier in einem Roman und Bruno Max, Prinzipal des Theaters zum Fürchten, hat daraus eine packende Bühnenfassung geschaffen. Robert Notsch verwandelte dafür den Zuschauerraum in eine Arena, in der das heutige Publikum unmittelbar zu den sensationslüsternen Massen auf den Rängen eines Tanzpalastes à la Walkathon Stadium mutiert. Alexander Rossi als Master of Ceremonies namens Rocky Gravo moderiert virtuos ungerührt den Kampf von acht Paaren um den Sieg in diesem mehr und mehr unmenschlich werdenden Marathon als grandiose Show. Ihm zur Seite stehen der höchst aufmerksame Ringrichter Rollo (Marius Lackenbucher) und der am Flachmann hängende Arzt Doktor Elliot (Raimund Brandner). Zum Ehrengast ernannt wird Mrs. Layden (Lotte Loebenstein), die trotz vorgerückter Jahre einem der Burschen einen eindeutigen Antrag macht.

Teresa Renner, Christopher Korkisch © Bettina Frenzel

Teresa Renner, Christopher Korkisch © Bettina Frenzel

Marius Lackenbucher, Anaïs Golder © Bettina Frenzel

Marius Lackenbucher, Anaïs Golder © Bettina Frenzel

Bevor das Ganze losgeht, lernt man Gloria und Robert kennen. Sie, von Anna Sophie Krenn mit all ihrem Frust versehen, hat einen Selbstmordversuch hinter sich und reißt sich den zögernden Burschen (Paul Barna) kurzerhand als Tanzpartner auf. Eva-Christina Binder als Clarissa glänzt im wahrsten Sinn des Wortes mit ihren auffälligen Kleidern und wird vom angehenden Schauspieler Joe (Benjamin Spindelberg) zumindest anfangs zur Musik des eigens für dieses Turnier aufspielenden Orchesters geführt. Wer würde der hochschwangeren Ruby (Teresa Renner) ein extrem langes Durchhalten in den Armen ihres Gatten James (Christopher Korkisch) zutrauen.

Aber die beiden tanzen noch, nachdem weit sportlichere Konkurrenten längst ausgeschieden sind. Larry, ein Veteran der Navy, ist zwar nicht mehr der Jüngste. Mathias Kahler-Polagnoli gibt sich aber fit wie ein Turnschuh, legt eine heiße Sohle aufs Parkett und nimmt sich nach dem Zusammenbruch von Shirley (Stephanie-Christin Schneider) umgehend die nächstbeste frei gewordene Dame an die Brust. Als Bess und deren blinder Bruder Mack tanzen Prisca Buchholtz und Robert Max Elsinger ebenso unverdrossen wie der durch den Tonfilm nun stellungslose Kinopianist Freddy (Michael Fischer) und die laut Gesetz zu junge Liz (Anaïs Golder), was ihm eine Verhaftung durch die Polizei einbringt. Neben Ausbrüchen von Verzweiflung und heftig ausgetragenen zwischenmenschlichen Spannungen wird allgemeine Erschöpfung dabei zum tragenden Element einer Handlung, die nicht nur unvorstellbare Strapazen beschreibt, sondern mit einem überaus zynischen Ende bis zum erlösenden Gnadenschuss aufwartet.

Mathias Kahler-Polagnoli und Ensemble © Bettina Frenzel

Mathias Kahler-Polagnoli und Ensemble © Bettina Frenzel

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