Kultur und Weindas beschauliche MagazinEnsemble, Chor der Volksoper Wien, Wiener Staatsballett © Werner Kmetitsch / Volksoper Wien DIE LUSTIGE WITWE Pontevedros wunderbare Rettung
Kritische Geister haben schon seit Längerem festgestellt, dass dieser Stoff der Wokeness unserer aktuellen Gesellschaft nicht entspricht. Da ist von den Weibern die Rede, in fast unerträglicher Wiederholung dieses despektierlichen Ausdrucks für Frauen. Gemeint sind damit Nachtclubtänzerinnen, die angeblich nichts anderes im Sinn haben, als in die Jahre gekommene Herren auszunehmen, Ehegattinnen, die ihre Männer nach Strich und Faden betrügen, und eine zu sagenhaftem Reichtum gekommene Witwe, die sich von ganz unten nach ganz oben geheiratet hatte. Wenn man aber ein wenig genauer in das Libretto von Victor Léon und Leo Stein hineinblickt, entdeckt man einen Haufen dummer männlicher Wesen, gegen die jede dort vorkommende Frau eine Intelligenzbestie ist. Damit ist, so kann man beruhigt feststellen, ein Gleichstand zwischen den Geschlechtern erreicht. Nichts steht mehr im Wege, Franz Lehárs grandiose Komposition zu „Die lustige Witwe“ unvoreingenommen zu genießen.
Um bei der Musik zu bleiben: Ben Glassberg steht am Pult des Volksopernorchesters und zaubert wundervolle Klänge, wohl mit wienerischer Unterstützung der vor ihm im Graben Musizierenden. Wem bei „Lippen schweigen, s´ flüstern Geigen“ nicht das Herz aufgegangen ist, der muss ein Rüpel sein, so schön wurde dieser Walzer bei der Premiere gespielt; mit der deutlichen Verzögerung der Drei im Takt. Bis es jedoch so weit ist, muss eine nicht unkomplizierte Handlung umgesetzt werden.
Als Baron Mirko Zeta versucht Szymon Komasa die maroden Finanzen seines Heimatlandes zu sanieren. Dabei merkt Herr Botschafter nicht, dass seine Frau, die Französin Valencienne, längst ein Gspusi mit dem Maler Camille (ein junger Tenor, den man sich merken sollte: Aaron-Casey Gould) lustvoll betreibt. Sie ist doch eine anständige Frau, lässt ihn Hedwig Ritter glauben und notiert es sicherheitshalber auf ihrem, vom Liebhaber kompromitierend signierten Fächer.
Myrthes Monteiro (Anita), Ensemble © Marco Sommer / Volksoper Wien WEST SIDE STORY Sparsame Ausstattung, opulente Wirkung
Die traurigste Liebesgeschichte wohl der ganzen Geschichte bewegt seit Urzeiten die Herzen – obwohl, daraus gelernt hat bis heute niemand. Nicht erst William Shakespeare hat sie für sich entdeckt, aber er hat Romeo und Julia zum Allgemeingut der Menschheit gemacht. Ihm sind unzählige Autoren gefolgt, auch Arthur Laurents und Stephen Sondheim, die die Story nach New York City verlegt haben, in einen düsteren Teil der West Side von Manhatten. Die Musik dazu hat ein ganz Großer geschrieben. „West Side Story“ wird gemeinhin als Musical bezeichnet. Leonard Bernstein hat damit aber weit mehr geschaffen, eher eine Symphonie des 20. Jahrhunderts mit rasend vertrackten Rhythmen und einer den Klängen immanenten komplizierten Harmonik. Trotzdem geht diese Komposition wie kaum eine andere ins Ohr, denn die Melodien, bei denen es um das Wesentliche des Inhalts geht, fliegen den Zuhörern zu wie prächtige Vögel. Sie machen Lachen und Weinen, erregen den Zorn auf den Hass an sich und erzählen von einer Liebe, die nicht imstande ist, Katastrophen zu verhindern.
Mit dieser Produktion hat Lotte de Beer einen Goldgriff getan. Sie hat selbst Regie geführt und dieses Werk in beachtlicher Qualität umgesetzt. Auf Kulissen wie die Freiheitsstatue in der Ferne, verkommene Häuserfassaden, Feuerleitern oder verdreckte Reklameschilder wird verzichtet. Das Schwarz des Hintergrundes reicht (abgesehen vom „Place to be“) völlig aus, um mit Licht und ein paar wenigen Requisiten die Schauplätze zu markieren (Bühnenbild: Christof Hetzer). Den Rest besorgen ohnehin die Darsteller. Mitreißende Tanzszenen der Jets und der Sharks lassen das Temperament überquellen (Choreographie: Bryan Arias). Von Riff (Oliver Liebl), der lästigen Anybody (Melanie Böhm) über den streitsüchtigen Bernardo (Lionel von Lawrence) bis zum schießwütigen Chino (James Park) sind alle diese Gesangsrollen solide besetzt. Die Mädchen, ob die blonden Girls der Sharks oder die glutvollen Puoertoricanerinnen, sind nicht nur eine Augenweide, sie verstehen es auch, trefflich zu tanzen und zu singen.
Jakob Semotan (Kurt Hesky), Lukas Watzl (Kurt Herbert Adler), Marco Di Sapia (Alexander Kowalewski), Andreas Patton (Ossip Rosental), Szymon Komasa (Leo Asch), Florian Carove (Hugo Wiener), Ensemble © Barbara Pálffy/Volksoper Wien VOLKSOPER 1938 Lass uns die Welt vergessen...
Es könnte alles so fröhlich sein. Auf dem Programm steht „Gruß und Kuss aus der Wachau“, eine erfrischende Ansammlung von Ohrwürmern über einem witzigen Libretto; gerade richtig für die mageren Jahre der Zwischenkriegszeit in Österreich. Dass die Menschen zumindest für einen Abend ihre Sorgen vergessen, ist dem Komponist Jara Beneš und den bewährt humorigen Textschreibern Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda zu verdanken. Für das Programm verantwortlich ist Intendant Alexander Kowalewski, Regie führt Kurt Hesky. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind Juden. Bereits im Februar 1938 tauchen SA-Uniformen in der Volksoper auf, verdichten sich über die folgenden Wochen bis zum Anschluss im März, der für beinahe das gesamte Leading Team das Ende bedeutet. Die Ansicht von Hesky, dass die Politik unwichtig ist, weil in vier Wochen Premiere ist, wird zum absurden Wunschdenken. Binnen kurzem ist die Volksoper judenfrei, über Solisten, Chor, Ballett, das Orchester bis hinunter zum geschassten Souffleur Leo Asch.
Diese schicksalhaften Tage sind nun die Handlung des Auftragswerkes „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ nach dem Buch von Theu Boermans in der musikalischen Leitung von Keren Kagarlitsky. Neben den schwungvollen Melodien von Jara Beneš in den Operettenszenen kommentiert Musik von Arnold Schönberg, Viktor Ullmann, Gustav Mahler und Kagarlitsky das historisch überlieferte Geschehen in und vor dem Haus am Gürtel. Jeder Moment dieser in unserer Zeit so wichtigen Produktion ist packend, mitreißend und das einzig wahre Geschenk an dieses Opernhaus, das vor 125 Jahren den Spielbetrieb aufgenommen hat.
Jaye Simmons, Christoph Stocker, Jonathan Hamouda Kügler, Jugend- u. Kinderchor © Barbara Pálffy/Volksoper Wien DIE REISE ZUM MOND bringt die Liebe zu unserem Planet B
Genau so bringt man Kinder und Jugendliche in die Oper. Wenn im Publikum Scharen von Buben in feierlichen Anzügen und Mädchen im Outfit von Prinzessin bis Pippi Langstrumpf dem Geschehen auf der Bühne fasziniert folgen, muss es sich um etwas ganz Besonderes handeln. Das Erstaunliche: Es wird eine Oper gegeben, eine Komposition von Jacques Offenbach, mit einer Musik, die so gar nicht derjenigen gleicht, mit der sich die Kids normalerweise die Ohren verstopfen, und einer Handlung, der ein Roman von Jules Verne zugrunde liegt. Egal was daran die Jugend fesselt, aber es bleibt die Erinnerung an einen wunderbaren Abend voller Spaß auf höchstem Niveau. Vielleicht sind es die herrlich launige Inszenierung und die fantastischen Kostüme von Laurent Pelly oder der Humor, mit dem das großteils junge Ensemble (verstärkt mit dem Kinder- und Jugendchor) zu Werke geht oder gar die Hoffnung auf einen Planeten B, wenn der unsere hoffnungslos vermüllt ist (Abfallberge auf der irdischen Bühne, drapiert von Barbara de Limburg), oder alles zusammen, das die Zuschauer ohne Unterschied des Alters bei der Stange hält.
Alfred Eschwé am Pult lässt Offenbachs Musik erglänzen, egal ob es sich hienieden um gewohnte Harmonik handelt oder auf unserem Trabanten um „extraterrestrische“ Klänge. In der von Albert Vanioound und anderen zum Libretto geformten Geschichte geht es um den Prinzen Caprice, der wie schon sein Name sagt, eine andere Lebensplanung im Auge hat als sie sein Vater König Zack erwartet. Aaron-Casey Gould als Mitglied des Opernstudios lehnt sich mit schlankem Tenor dagegen auf, von Carsten Süss die Krone eines herabgekommenen Reiches aufgesetzt zu bekommen.
Tommi Hakala (Jochanaan), Astrid Kessler (Salome) © Barbara Pálffy/Volksoper Wien SALOME Bibelstunde mit O. Wilde & R. Strauss
Luc Bondy (1948 – 2015) hat 1992 Salome für die Salzburger Festspiele inszeniert. Nach 31 Jahren hat man dieser Produktion wieder gedacht und sie für die Volksoper neu adaptiert. Der Rückgriff hat sich ausgezahlt. Nicht zuletzt, weil Dichtung und Musik darin in wunderbarer Weise verschmelzen. Für den Regisseur war dies allerdings keine Selbstverständlichkeit. Den Text von Oscar Wilde beschrieb er, als würde man Konfitüre über Zucker streichen und noch mehr des Süßen bis zur heißen Schokoladesauce dazugeben. In seinen Erinnerungen taucht jedoch ein Genieblitz auf: Es sollte ein archaischer Thriller werden und keineswegs ein Orientalismus. Seine Meinung stand gegen die Auffassung des Komponisten Richard Strauss, wirklich exotische Harmonik kreiert zu haben, „die besonders in fremdartigen Kadenzen schillerte, wie Changeant-Seide.“ Bondy hat sich mit Strauss „zusammengerauft“, bei den verwöhnten Prinzessinnen am Hof der Habsburger Anleihen genommen und eine Salome auf die Bühne gestellt, die in ihren seltsamen Gelüsten wirklicher nicht sein könnte.
Mit Omer Meir Wellber am Pult des Volksopernorchesters wurde diese mittlerweile legendäre Auseinandersetzung von Komponist und Regisseur zum eindrucksvollen Erfolg. Der Dirigent badet richtiggehend in den vollen Klängen. Er nimmt wenig Rücksicht auf einzelne nicht immens stimmstarke Solisten in den Nebenrollen, um den Protagonisten die Chance zu geben, ihre Durchsetzungskraft unter Beweis zu stellen. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist ein Herodes, der glaubhaft zuerst die Geilheit an der Stieftochter und später Verzweiflung über deren perversen Wunsch umzusetzen versteht. Vor seiner Frau Herodias sollte man sich in Acht nehmen.
Die Entführung aus dem Serail, Chor © Barbara Pálffy/Volksoper Wien Die ENTFÜHRUNG aus dem SERAIL Türkische Musik vor einer scharfen Feige
Man fragt sich, ob eine Mozartoper so viele Intentionen aushalten kann, wie sie Nurkan Erpulat in „Die Entführung aus dem Serail“ hineingepackt hat. Mit Altmeister Alfred Eschwé am Pult stehen die Chancen für die Musik von Haus aus gut. Wenn in der Ouvertüre nach ein paar Piano-Takten das Schlagzeug fortissimo reinhaut, dann ist es der damaligen Mode geschuldet. Ende des 18. Jahrhunderts war man verrückt nach solcherart „türkischer Musik“, der neben eine Reihe anderer Komponisten auch Joseph Haydn eine Symphonie gewidmet hat. Das Libretto von Johann Gottlieb Stephanie wurde von Sulaiman Masomi großzügig erweitert. Zur Sprache kommen etliche Klischees, angefangen von Frauenrechten über ein Plädoyer zu LGBT*Q, amerikanische Söldner im Dienste eines Osmanen und Überlegungen zum fragwürdigen Wort Orient bis zu einer Kurzpredigt über arme Türken, die ihrer Heimat entrissen in unserer ach so bösen westlichen Gesellschaft niedrigste Dienste leisten müssen. Als einer von ihnen dürfte sich Regisseur Erpulat fühlen. Er ist in der Türkei geboren, arbeitet in Berlin und scheint nun zwischen den Stühlen zu sitzen. Deshalb ist es ihm nicht zu verdenken, wenn er die Gelegenheit nützt, es den blasierten Wiener Operngehern einmal so richtig hineinzusagen. Es wird ihm verziehen, denn für dieses bald 250 Jahre alte Werk war eine inhaltliche Auffrischung längst fällig und sie tut ihm sogar gut – so lange die Partitur nicht angetastet wird.
Dass das Wesentliche klappt, dafür sorgen die Solisten. Timothy Fallon als Belmonte ist zwar nicht der typische Draufgänger, der sein Leben für Konstanze aufs Spiel setzen würde, aber sein Tenor ist ansprechend lyrisch und seine Liebesschwüre klingen damit durchaus glaubwürdig.
Martin Winkler (Sir John Falstaff), Ensemble © Barbara Pálffy/Volksoper Wien DIE LUSTIGEN WEIBER VON WINDSOR Komisch, fantastisch, feministisch
Die Männer kommen in dieser Oper nicht gerade gut weg. Das hat schon William Shakespeare so gewollt, dann der Librettist Salomon Hermann Mosenthal und nicht zuletzt die Regisseurin Nina Spijkers. Warum auch? Allein dieser Sir John Falstaff ist ja wirklich ein Ekel. Er säuft wie ein Loch, macht Schulden und ist von seinen Gonaden gesteuert. Er hätte es sich überlegen müssen, den beiden Damen Reich und Fluth gleichzeitig in einem Brief ein Techtelmechtel anzubieten. Man sieht, der gute Mann hat trotz seiner sexuellen Umtriebe im Grund keine Ahnung von Frauen. Er hätte wissen müssen, dass ein solcher Antrag betratscht wird und sich kein noch so lustiges Weib eine solche Unverschämtheit gefallen lässt. Er ist aber nicht der einzige Trottel. Herr Fluth ist von Eifersucht zerfressen und macht sich zum Narren, ebenso wie die beiden etwas unterbelichteten Traumschwiegersöhne von Herrn und Frau Reich. Aber was sollte ein aufgewecktes Mädchen wie Anna mit einem dümmlichen Junker Spärlich und einem von sich eingebildeten Dr. Cajus anfangen? Die Frauen verfügen nicht nur über anziehende Reize, sondern auch über entsprechende Listigkeit, um diese Melange an männlicher Unzulänglichkeit aufzumischen und zu ihrem Besten zu führen.
Mit der wie deutscher Sekt schäumenden Musik von Otto Nicolai und der Inszenierung der Niederländerin Spijkers wird diese Oper zum gehobenen Spaß, in dem die eingearbeiteten feministischen Botschaften, oder mit der Regisseurin gesagt, „weichen Kräfte“ alles andere als einen Krieg der Geschlechter vom Zaun brechen. Das Bühnenbild von Roe Smith ist raffiniert praktisch. Dass sich während der Ouvertüre (souverän: Ben Glassberg am Pult des Volksopernorchesters) Frauen übermütig auf einer Blumenwiese kugeln, legt bereits die erfrischende weitere Gangart fest. Dieser folgen Chor und Ballett immer mit dem diesem Stück immanenten Humor.
Timothy Fallon (Friedrich Quant), Wiener Staatsballett © Barbara Pálffy/Volksoper Wien DIE LETZTE VERSCHWÖRUNG als musikalisch „wahrhafte“ Satire
Moritz Eggert nennt sein Werk eine „Mythos-Operette“. Viele, viele Jahre nach der Uraufführung der letzten klassischen Operette sind die Erwartungen bei solch einer Ansage natürlich gespannt. Nach zweieinhalb Stunden (mit Pause) hat sich herausgestellt, dass diese Genre-Zuordnung gar nicht so falsch ist. Es ist ein Heidenspaß, eine Parodie – nicht auf die Operette, sondern auf die Schwurbelei, die uns im Zuge der Pandemie als erschwerendes Leiden beschert wurde. Von Eggert stammen sowohl, das – wenn man so sagen darf – Libretto und die Musik. Im durchaus wohlklingend tonalen Satz bietet sich eine zeitgemäße Komposition, die – ungewöhnlich für moderne Partituren – ein Zuviel an Dissonanzen vermeidet, sondern in gewagter Harmonik mutige Effekte schafft. Gefordert sind die Solisten, denen nicht der Gefallen von ohrwurmigen Arien gemacht wurde. Sie sind auf abstrakte Melodien über dem deutschen Text beschränkt, der über der Bühne zum Mitlesen läuft. Der Inhalt ist, wie schon gesagt, eine launige Aufzählung aller möglichen Verschwörungstheorien, denen der eine Mutige entgegentritt, um am Ende zu einer Art Wahrheit zu finden, stets mit dem Auftrag an das Publikum, das alles nicht wirklich ernst zu nehmen.
Gemeinsam mit Lotte de Beer als Regisseurin und einem fantastischen Bühnenbild von Christof Hetzer wurde „Die letzte Verschwörung“ in der Volksoper umgesetzt. Endlich ein neues Werk! Der Jubel war entsprechend groß, zumal das Unternehmen ausgezeichnet gelungen ist. Am Pult steht Steven Sloane, der es virtuos versteht, Orchester und das turbulente Geschehen auf der Bühne auf Linie zu halten. Ein Ballett in silbernen Anzügen vermittelt den Anschein von Utopie und hat dennoch keine Scheu vor dem Can-Can. Jakob Semotan schafft als Alois Dunkler Wiener Operettenflair, wenn er Pralinen ans Krankenbett bringt und den Patienten mit dem Satz „a echter Weana geht net unter“ aufmuntert. Er ist längt einer von denen, die die Menschheit an sich reißen wollen und sich dazu mit geheimnisvollen Zeichen verständigen.
Regula Rosin (Golde), Wiener Staatsballett © Barbara Pálffy/Volksoper Wien ANATEVKA Wiederaufnahme eines Erfolgsgaranten
Scholem Alejchem war das Pseudonym des 1859 in Kiew geborenen und 1916 in New York verstorbenen Dichters Scholem Jankew Rabinowitsch. Von ihm stammen die zu einem Roman verbundenen Erzählungen um die Person des Tevje, des gewitzten und dennoch mit seiner Armut hadernden Milchmannes in der Ukraine, damals noch Teil des russischen Zarenreiches im ausgehenden 19. Jahrhundert. Joseph Stein, ein US-amerikanischer Dramatiker, bediente sich dieser Episoden und schmiedete daraus das Libretto eines Musicals. Sein Landsmann Jerry Bock schrieb dazu die Musik und Sheldon Harnick die Gesangstexte. 1964 erblickte das kleine Städtel Anatevka das Licht einer Broadwaybühne in New York. Innerhalb von kürzester Zeit hat es die Welt erobert und erfreut seither den Goi ebenso wie den Juden. Die wesentliche Aussage ist mit einem Wort zu sagen: Tradition! Sie ist die Maxime von Tevje, der im Lauf der Handlung einsehen muss, dass an ihr die Zeit nicht spurlos vorüber gegangen ist. Mehr und mehr wird sie aufgeweicht oder sogar gebrochen, bis am Ende eine armselige Schar von heimatvertriebenen Juden in einer Welt, die über diese Traditionen bestenfalls noch lächeln kann, zerstreut wird.
Der deutsche Spezialist für Musicals, Matthias Davids, hat Anatevka 2003 für die Volksoper inszeniert. Es hat nichts von seinem traurigen Reiz verloren; der Himmel dräut noch immer düster Unheil verheißend über dem Dorf, in dem gefeiert, getanzt und geheiratet wird wie eh und je, der Wachtmeister (Nicolaus Hagg) drangsaliert mit Unschuldsmiene die Leute und Cristian Ruscior ist auch in der 74. Vorstellung ein souveräner Fiddler on the Roof. Etliche der Darsteller und auch Dirigent Freddie Tapner feierten ihr Debüt in der Wiederaufnahme am 23. Februar 2023. So ist Dominique Horwitz ein kraftstrotzender Tevje, der jedoch noch nicht so ganz die jüdische Chuzpe inhaliert hat, ebenso wie seine Golde, solid gespielt und gesungen von Regula Rosin. Ganz im Gegensatz dazu kommt Jente (Martina Dorak) als Heiratsvermittlerin langjährige Routine in dieser humorigen Rolle zugute. Aber was soll´s? Es wird sich alles einschleifen, denn mit diesem Garanten für ein ausverkauftes Haus kann eigentlich nichts schief gehen, noch dazu mit dem Mehrwert von Gedankenanstößen zu allseitiger, unausrottbarer Verbohrtheit zwischen uns Menschen. Statistik |